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"In Aberdeen war fast jeder Haushalt betroffen"

Gedenkfeier beim Piper Alpha Memorial in Aberdeen, am 6. Juli 2013

"Mayday! Mayday! Explosion und Feuer auf der Ölplattform. Wir verlassen die Plattform." Am 6. Juli 1988 sendete die 190 Kilometer nordöstlich vom schottischen Aberdeen gelegene Piper Alpha um 22.04 Uhr einen Hilferuf. Vier Minuten später kam der letzte Mayday-Ruf. Trotz grosser Rettungsaktion forderte das katastrophale Feuer schliesslich 167 Menschenleben - nur 61 Beschäftigte auf der Plattform überlebten.

Jetzt, 25 Jahre später, hört die Blaskapelle auf zu spielen. Aus der Stille ertönt ein Knattern, und die mehr als hundert Versammelten richten ihre Blicke zum Himmel: Ein gelber Sea-King-Helikopter fliegt über den North Sea Memorial Garden im Hazlehead Park. Hier, am westlichen Rand von Aberdeen, der Ölhauptstadt Europas, soll an jene unheilvolle Nacht vor 25 Jahren zurückgedacht werden, in der Piper Alpha - die zu jener Zeit produktivste Ölplattform der Nordsee - in Flammen aufging.

Auch damals flogen Sea-King-Rettungshelikopter aus. Der erste startete mit offenem Cockpitfenster - und musste es bereits eineinhalb Kilometer vor dem Ziel schliessen, so intensiv war die Hitze, die ihm entgegenschlug. Unterdessen waren zwei Gaspipelines geborsten, die von benachbarten Plattformen über Piper Alpha zum Festland führten. Dieses Gas nährte das Feuer weiter. Ein Anflug des Helidecks war unmöglich, die Arbeiter auf der Piper Alpha warteten vergeblich auf eine Evakuierung aus der Luft. Das Feuer versperrte auch den Weg zu den Rettungsbooten. Manche konnten rechtzeitig an Seilen in die Tiefe klettern, wo Boote sie aufnahmen. Die meisten der 61 Überlebenden konnten sich nur retten, weil sie etwas taten, wovon jedem Ölarbeiter dringend abgeraten wird: Sie sprangen in die Nordsee, manche aus dreissig, manche gar aus rund fünfzig Metern Höhe vom Helideck.

Die Betroffenheit

Beim Unfall auf der Deepwater Horizon 2010 im Golf von Mexiko denkt man sofort an die Unmengen Öl, die bei der Katastrophe ausgelaufen sind. Bei Piper Alpha spricht niemand von den Auswirkungen auf die Umwelt: Der Tod von 165 Arbeitern und zwei Rettungskräften beschäftigt mehr. Auch am 25. Jahrestag ist die Trauer noch greifbar. Selbst einer der blau gekleideten Sicherheitsmänner am Rand des Memorial Gardens wischt sich eine Träne weg, als die Namen der Verstorbenen verlesen werden. Überlebende, Hinterbliebene und deren FreundInnen sind heute mit ihren Familien hergekommen, um das Andenken der Toten zu ehren und Blumen vor dem Denkmal niederzulegen. Auch kleine Kinder sind dabei. "In Aberdeen war fast jeder Haushalt irgendwie betroffen", hat der Taxifahrer bereits auf der Fahrt zur Zeremonie erklärt. "Wenn nicht direkt, so kennt doch fast jeder über ein paar Ecken einen der Männer, die damals starben."

Über ein Jahr dauerte die angeordnete Untersuchung der Katastrophe. Sie stand unter der Leitung des damals noch jungen Richters Lord Cullen. Der 500-seitige Schlussbericht zeigte nicht nur die Ursachen auf, sondern enthielt auch 106 Empfehlungen, wie die Sicherheit auf Offshoreanlagen künftig verbessert werden könnte. Restlos alle wurden umgesetzt.

"Lord Cullen legte das Fundament für das System, das wir heute haben", erklärt Robert Paterson, seit 2007 Direktor für Sicherheit beim Branchenverband Oil & Gas UK. Als eine der wichtigsten Neuerungen erachtet er die Verpflichtung, alle Sicherheitsrisiken zu identifizieren und gegenüber den Behörden aufzuzeigen, mit welchen Massnahmen diese verringert werden können. Damals schuf man eine einzige, spezialisierte Behörde, die sich allein der Offshoresicherheit zu widmen hatte. "Vor Piper Alpha hatte die zuständige Behörde zu wenig Mittel und Personal, um etwas ausrichten zu können", sagt Paterson. Heute könne sie durchaus Druck ausüben, wenn sie erfahre, dass es auf einer Plattform an Sicherheit mangle.

Die Psychologie

Nach der Katastrophe öffnete sich die britische Offshoreindustrie für psychologische Forschungsprojekte. Laut Rhona Flin, Professorin für angewandte Psychologie an der Universität Aberdeen, war es vorher extrem schwierig, Zugang zu Offshoreanlagen zu erhalten. "Aber Piper Alpha machte allen deutlich, dass nicht nur technisches, sondern auch menschliches Versagen zu Unfällen beitragen und diese verschlimmern kann." So übte der Cullen-Report Kritik an den Managern der beiden benachbarten Plattformen. "Sie haben zu lange gezögert, ihre Produktion herunterzufahren", erklärt Flin.

Um sicherzustellen, dass ManagerInnen auch in solch schwierigen Situationen richtig entscheiden, habe man nach dem Vorfall erstmals einheitliche Kriterien zu deren Bewertung entwickelt. Flin bekam nach dem Unglück den Auftrag, diese Frage zu untersuchen. Dabei orientierte man sich daran, wie Feuerwehr, Polizei, Militär und ähnliche Institutionen ihre Führungskräfte auswählen, ausbilden und bewerten. Auf dieser Grundlage habe man dann auch für die Ölindustrie Standards geschaffen.

Aber nicht nur Fehler in der Chefetage können auf einer Ölplattform verheerende Folgen haben. Eine der Ursachen der ersten Explosion war, dass die Tagschicht der Nachtschicht eine zentrale Information nicht mitgeteilt hatte, obschon sie das bei der Schichtübergabe hätte tun müssen: Sie hatte das Überdruckventil einer Pumpe zur Wartung entfernt und nicht wieder befestigt. In der Nacht wurde die stillgelegte Pumpe dann hochgefahren, Gas entwich, und eine Explosion löste die Katastrophe aus.

Die Sicherheit

"Die besten Systeme und Vorschriften nützen nichts, wenn sie umgangen oder nicht eingehalten werden", sagt der Gewerkschafter Jake Molloy. Das habe auch Deepwater Horizon im Jahr 2010 gezeigt. Sie sei bezüglich Technologie eine der fortschrittlichsten Plattformen gewesen, mit gutem Sicherheitssystem. Molloy hat zwischen 1980 und 1987 selbst auf verschiedenen Ölplattformen gearbeitet. Seither engagiert er sich für die Anliegen der ÖlarbeiterInnen.

"Nach Piper Alpha hat sich vieles verbessert. Das letzte fehlende Puzzleteilchen sind die Angestellten", sagt er. Das Problem: 95 Prozent der Belegschaft auf britischen Ölplattformen werden nicht direkt von den Ölfirmen angestellt, sondern von unabhängigen, konkurrierenden Unternehmen. Um keine Aufträge zu verlieren, seien diese bemüht, allen Wünschen der AuftraggeberInnen nachzukommen, sagt Molloy - selbst wenn dies auf Kosten der Sicherheit geschehe.

Er wolle nicht schwarzmalen, er wisse von vorbildlichen Plattformen. Aber es gebe nach wie vor ManagerInnen, die ihre Untergebenen dazu anhielten, die Regeln zu brechen. Und ManagerInnen, die sich in ihrer Autorität angegriffen fühlen, sobald jemand Sicherheitsbedenken äussere. "Arbeiter müssen Fehler oder Sicherheitsmängel ansprechen dürfen - ohne Angst vor negativen Auswirkungen. Aber das haben wir auch hier in der Nordsee noch nicht überall erreicht."

Robert Paterson sieht alle Arbeitskräfte in der Pflicht, zur Sicherheit beizutragen. Denn trotz verbesserter Gesetze, Techniken und Frühwarnsysteme seien "die Risiken noch immer dieselben wie zur Zeit von Piper Alpha". Doch die jüngste Generation von ArbeiterInnen auf den Plattformen sei zu jung, um sich an die Katastrophe zu erinnern. Sie unterschätze die Risiken oft. "Die Jungen dürfen nicht denken, Piper Alpha sei einfach ein Stück Geschichte. Sie müssen sich bewusst sein, wie schlimm es herauskommen kann, wenn etwas schiefgeht."

Ölindustrie, Behörden und Gewerkschaften haben deshalb die Initiative "Step Change in Safety" ("Schrittweise die Sicherheit verbessern") ins Leben gerufen und auf den Gedenktag hin den Kurzfilm "Remembering Piper" produziert (vgl. "Die Künstlerin, die sich nicht kaufen liess"). Zum Schluss wendet sich der Film direkt ans Zielpublikum: "Fühlst du dich kompetent für die Aufgaben, die dir zugeteilt wurden?" oder "Wie hilfst du mit, deinen Arbeitsplatz sicherer zu machen?" Damit Piper Alpha nicht vergessen wird.

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