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Die schnelle Truppe

Die schnelle Truppe

Langsam findet der Tag sein Ende, es beginnt die Freitagnacht. Am Ortsrand von Rengersbrunn, hoch oben im schneereichsten Flecken des Spessarts, hat ein Feuerwehrkommandant die Hände tief in den Taschen seiner Jeans. Immer wieder blickt er hinauf in Richtung des Dorfes. Wann kommen sie? Das Gesicht mit dem schwarzen fünf-Tage-Bart hat er tief im Kragen seiner Arbeitsjacke versteckt. Der April produziert weiter unbarmherzig diesen leidigen Schneeregen, den mit den schweren, dicken, nassen Kristallklumpen. Die Flocken bleiben in den wuscheligen Haaren des Kommandanten hängen und lösen sich darin langsam auf. Er ist 46 Jahre alt, er könnte jetzt in seinem warmen Wohnzimmer sein. Vielleicht würde er ein Stück Holz in den Kamin nachlegen? Vielleicht mit seinen Kindern einen Film schauen, oder mit seiner neuen Freundin? Sie hat ihn vor einem Jahr wieder aufgebaut, nach der größten Tragödie seines Lebens. Aber er steht jetzt hier neben dieser Lagerhalle am Ortsrand, und wartet. Das nächste Unglück muss verhindert werden.

Die Feuerwehr ist eine der wichtigsten Stützen des gesellschaftlichen Immunsystems. Häuser brennen, Autos krachen ineinander, Wasser läuft in die Keller – alle zweieinhalb Minuten, 600 Mal am Tag, 250.000 Mal im Jahr muss in Bayern eine Feuerwehr ausrücken. Löschen, retten, absichern, aufwischen. Schon in Kinderbüchern lernen wir, dass die Feuerwehr immer da ist .

Was aber, wenn eines Tages keine roten Autos mehr zur Hilfe kommen würden – einfach weil nicht mehr genug Menschen da sind, die sie steuern?

Momentan stagniert die Zahl der Feuerwehrleute in Bayern. Jedoch könnten die bayerischen Freiwilligen Feuerwehren bis zum Jahr 2031 im Vergleich zu 2011 etwa 55.000 Feuerwehrleute verlieren, so schätzt die Sozialwissenschaftlerin Annette Franzke in einer Studie, in der sie die Zukunft der Freiwilligen Feuerwehr Bayerns im demographischen Wandel untersuchte. Ein Sechstel aller Feuerwehrleute wäre weg. Kaum vier Prozent der Bevölkerung würden dann noch aktiv Dienst leisten. Überall in Bayern arbeiten Feuerwehren gegen diese Entwicklung an, stellen Werbekampagnen auf die Füße, veranstalten Tage der offenen Türen, postieren sich mit Infoständen in Fußgängerzonen. Eine Lösung des grassierenden Nachwuchsproblems der Feuerwehren aber könnte hier im gerade wieder verschneiten Rengersbrunn liegen – bei Kommandant Tim Interwies und seiner Truppe.

An diesem Freitagabend soll die Lagerhalle, neben der der Kommandant wartet, brennen – zumindest wird es angenommen, zur Übung. Denn wenn der Ernstfall da ist, soll alles reibungslos funktionieren. Brennt es, kann sich eine Lage in Sekunden ändern. Ein Wimpernschlag kann zwischen Leben und Tod, zwischen Worst Case und gerade noch einmal gerettetem Gebäude entscheiden. Die Zeit ist der größte und mächtigste Gegner der Feuerwehren. Schnelligkeit ist deshalb in Gesetze gegossen: Zehn Minuten. Das ist die Hilfsfrist, die nicht überschritten werden darf. Sie beginnt, wenn der Hörer für Notrufe in der Leitstelle abgehoben wird.

Der Kommandant blickt wieder hinauf in Richtung Dorf, da leuchtet auf einmal ein blaues Licht in die Dämmerung. Er presst die Worte durch den Reisverschluss seiner Jacke: „Da sin’ se. Endlich.“ Das Feuerwehrauto drängt durch den Schneeregen und auf die Lagerhalle zu. Es ist kaum größer als ein VW-Bus, „Tragkraftspritzenfahrzeug“ heißt es im Feuerwehrjargon. Dahinter stapfen Feuerwehrleute her – junge, alte, Männer, Frauen, Eltern und ihre Kinder, wie eine Schlange. So viele, dass sie einen Weltrekord im Auto-Tetris brechen müssten, um in das Feuerwehrauto mit seinen sechs Sitzen zu passen.

Die Feuerwehr von Rengersbrunn ist ein Phänomen: 87 Mitglieder, 74 Prozent der Bürger des 117 Einwohner zählenden Orts, sind hier eingeschrieben. 38 Frauen und Männer leisten aktiv Dienst. Sie üben permanent, gerade erweitern sie ihr Feuerwehrhaus – und das obwohl es Jahre gab, in denen sie zu keinem einzigen Einsatz ausrücken mussten. Ja, irgendwann waren es auch schon mal 12, vergangenes Jahr 4. Aber fast ein Drittel der Dorfbevölkerung im aktiven Feuerwehrdienst – wie kann das hier in Rengersbrunn so gut funktionieren, während überall in Bayern Wehren aus Personalmangel zumachen und aufhören müssen?

Als das Tragkraftspritzenfahrzeug hinter der Lagerhalle hält, springen Mann und Frau sofort aus den Türen, vermischen sich mit den Nachzüglern. Alle ihre dicken, blau-orangenen Jacken haben Reflektoren drauf. Die Löscheinheit aus neun Personen stellt sich sofort in Reih und Glied auf, nur ein Feuerwehrler wühlt sich noch quer durchs Auto. „Wo ist das verdammte Ding?“, schimpft er vor sich hin. Der Vize-Kommandant ist heute Gruppenführer und umreißt die Situation: „Beim Tim in der Halle brennt’s. Wir wissen: Es befinden sich keine Personen drin.“ Sie müssen das Feuer also nur von außen löschen. Dann hagelt es Kommandos in das Schneegestöber. Ab jetzt passiert alles gleichzeitig, präzise choreographiert, fast wie man sich das beim Militär vorstellt. Kein Wunder, es heißt ja auch im Feuerwehrsprech: Löschangriff.

Kommandant Tim Interwies beobachtet alles von der Seite. „Die Feuerwehr trägt das Dorf“, sagt er, ihn begleite die Feuerwehr schon das ganze Leben. Mit 12 trat er ein, er ging durch alle Prüfungen und Ämter. Seit 13 Jahren ist er jetzt als verantwortlicher Kommandant für den Schutz des Dorfes zuständig, wie sein Vater vor ihm – und vielleicht seine Kinder nach ihm. Wird sein Trupp schnell genug löschen? Wird die Übung reibungslos klappen?

„Angriffstrupp! Vor zur Halle!“ Ein älterer Mann und eine Frau schnappen sich den Verteiler aus massivem Stahl, und schleppen ihn mit gebückten Rücken davon. „Pumpe raus!“ Zwei Männer und zwei Frauen hieven die Pumpe aus dem Kofferraum. Einer wirft den Motor an, sofort erfüllt Abgasgeruch die Luft.

„Schlauchtrupp! Ausrollen!“ Zwei Frauen holen rollenweise Schläuche aus den Autos, die schuppig aussehen, wie leblose, ausgezogene Schlangenhäute. Beide laufen hinter den „Angreifern“ her.

„Wassertrupp! Aufmachen!“ Zwei junge Frauen eilen mit dem Standrohr auf die Straße. Eine davon ist Emma, 21, braune Haare, Nasenpiercing. In gewisser Weise kann man sie als die Zukunft der Feuerwehr bezeichnen, allein statistisch gesehen. Denn obwohl der Anteil der Männer immer noch einen Großteil aller freiwilligen Feuerwehrleute ausmacht, sinkt er. Und der Anteil der Feuerwehrfrauen steigt – von 7 Prozent im Jahr 2010 auf 10 Prozent in 2021. Bei den Jugendlichen machen Mädchen inzwischen fast 30 Prozent aus.

Mit dem Hydrantenschlüssel, der geformt ist wie ein Brecheisen, klemmt Emma den Gullideckel zum Unterflurhydranten auf. Gemeinsam schrauben sie das Standrohr auf die Öffnung in der Luke. Es muss perfekt sitzen, sonst passiert so etwas wie im vergangenen Frühjahr, als mit dem Wasser einmal auch das Rohr selber in die Luft schoss. Es gibt ein Video, auf dem ein Feuerwehrler mitten im Strahl im Kreis läuft und versucht, das Standrohr zurück in die Bodenleitung zu schrauben. Nach der Übung beim Feierabendbier in der Florianiklause wird es später mal wieder herumgezeigt, es wird herzlich gelacht und gefrozzelt – im Ernstfall dürfte so etwas aber nie und nimmer passieren. Spätestens wenn das Wasser gleich durch das Standrohr schießt – oder auch nicht –, wird klar, ob Emma einen guten Job gemacht hat.

Mit ihrer Mit-Trupplerin schließt sie die Schläuche an das Standrohr an. Gerade als die beiden fertig sind, hört man es vorne vom Verteiler. „ZEFIX!“, schreit eine Frau. Dann: „RENGERSBRUNN 44/1. RENGERSBRUNN 44/1.“ 44 ist der Feuerwehrcode für Rengersbrunn, 1 steht für das erste Auto. Aber die Rufe scheinen nicht durch den Funk zukommen. „DER KANAL?“, schreit der Truppenführer durch den Schnee zurück. Antwort: „407, ich bin auf dem richtigen.“ Von hinten am Hydranten schreit Emma: „BEI UNS HÖRT MAN AUCH NIX.“ Sie haut ein paar Mal auf das Funkgerät, plötzlich scheint alles zu klappen. „WASSER MARSCH!“, ruft die Kollegin vorn am Verteiler, und Emma dreht die Schraube am Hydranten auf. Plötzlich erwacht die Schlange zum Leben, sie windet sich an der Halle vorbei, hinein in den Verteiler. Die zwei vom Angriffstrupp, stemmen sich schon mal prophylaktisch gegen den Rückstoß, der gleich kommen wird. Der Mann zieht den Hebel zurück, und 200 Liter Wasser pro Minute schießen in die Rengersbrunner Nacht.

Tags darauf, keine elf Kilometer Luftlinie von Rengersbrunn entfernt. Heiko Betz drückt die Glastür zum Gemündener Feuerwehrhaus auf. Zwölf Garagentore reihen sich an der Fassade entlang auf, zehn Autos dahinter. Im Hof versuchen gerade zwei Feuerwehrler die Drehleiter zu reparieren, sie hat ein bisschen geruckelt beim letzten Einsatz. Das gehört zu den vielen kleinen, aber im Extremfall überlebenswichtigen Aufgaben der Feuerwehr, die nicht in den Einsatzstatistiken auftauchen. Der 50-jährige Betz ist groß gewachsen und quasi das Pendant zu Tim Interwies: Er ist Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr von Gemünden am Main, einer Stadt in der mit knapp 10.000 Einwohnern etwa 100 mal mehr Menschen leben als in Rengersbrunn. Betz ist für die 5.000 Leute im Kerngebiet verantwortlich – und mit ihm nur 45 weitere aktive Feuerwehrler. Das sind nur 7 Leute mehr als in Rengersbrunn und nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung. Viel zu wenige angesichts der Verantwortung – und der Aufgabenfülle –, die so eine große Wehr wie die Gemündener hat.

Heiko Betz hadert mit den Gemündenern, die er beschützen soll – und von denen er ja selbst einer ist. Er setzt sich oben ins Stüberl, dunkles Holz überall, eine halb volle Drei-Liter-Asbach-Flasche an der Wand. Natürlich kennt er die Rengersbrunner. Er sagt: „Ha, der Interwies! Was der rekrutiert…der Wahnsinn.“

Heiko Betz bräuchte mindestens doppelt so viele Leute in seiner Feuerwehr wie er aktuell hat. Letztens habe es einen Unfall gegeben, erzählt er, Öl lief auf die Straße. Aber sie konnten nicht mit dem richtigen Auto für so einen Fall ausrücken, weil zu wenige zum Einsatz kamen, um das Auto vorschriftsgemäß bemannen zu können. Es sei dann schon gegangen, sagt Betz. Irgendwie. Doch das hat ihm Angst gemacht. War das ein Blick in die Zukunft?

Betz erklärt die Personalnot noch einmal konkreter. Beispiel: Großbrand. Um im Löschzug auszurücken, braucht es 21 Aktive plus Betz und vier Fahrzeuge: Einsatzleitwagen (ELW), Löschgruppenfahrzeug (LF), Tanklöschfahrzeug (TLF) und die Drehleiter. Doch Gemünden ist industrieschwach, es arbeiten also viele seiner Leute auswärts und sind tagsüber nicht schnell verfügbar. Dann grassiert vielleicht auch noch die Grippe – oder Corona. Andere sind noch im Urlaub und manch einer einfach mal fertig mit den Nerven. Jederzeit könnten Leute ausfallen, sagt Heiko Betz. Das ist die Krux, in Gemünden wie auch in ganz Bayern: Auf dem Papier gibt es genug Feuerwehrleute. Aber wie viele von ihnen können im Notfall wirklich helfen – und das innerhalb von zehn Minuten? Dazu kommt: Weil die Technik der modernen Ausrüstung so hochspezialisiert ist, gibt es manchmal nur wenige, die ein bestimmtes Gerät bedienen dürfen. Was aber, wenn es nur drei Spezialisten an der Drehleiter gibt, einer davon im Urlaub, zwei krank …? Heiko Betz mag es sich nicht ausmalen.

100 bis 120 Einsätze fährt die Gemündener Feuerwehr jedes Jahr, im Schnitt einen alle drei Tage. Und klar ist: Auf je weniger Schultern sich diese Verantwortung verteilt, desto mehr müssen sich die verbliebenen Leute aufarbeiten. Wenn immer wieder dieselben Leute mitten in der Nacht aus den Betten geklingelt werden, immer wieder dieselben zu belastenden Einsätzen ausrücken, immer wieder dieselben ran müssen zum Warten und Reparieren der Ausrüstung, dann kann das nicht gesund sein. Für die Moral. Für den Körper. Für den Kopf. Für den Beruf. Für das Sozialleben. Für die Familie.

Die Probleme der Freiwilligen Feuerwehren sind ein Abbild der Gesellschaft – man kann sie ruhig als Indikator für den Zusammenhalt lesen. Denn Feuerwehrler/in zu sein ist ein Ehrenamt, bei dem kalte Hände und nasse Schuhe vom Schneeregen noch das geringste Problem sind. Menschliches Leid zu sehen, schlimme Bilder und belastende Situationen verarbeiten zu müssen, auf Schlaf und Freizeit zu verzichten, das ist quasi mit einprogrammiert. Man arbeitet gemeinsam an einem höheren Ziel: Menschen zu retten. Doch wenn man dafür kaum etwas zurückbekommt, wieso sollen sie sich das antun? So verheizt eine Gesellschaft ihre hilfsbereitesten Leute. Heiko Betz sagt es so: „Jeder ist froh, dass die Feuerwehr kommt, wenn was passiert ist. Aber dazugehen will keiner.“

Der Mitgliederschwund bei den Freiwilligen Feuerwehren ist ein regional stark variierendes Problem. In Oberbayern sieht es nicht zuletzt wegen des immer weiteren Zuzugs generell noch ganz gut aus, in Ober- und Unterfranken dafür umso schlechter. Fast um ein Viertel könnte die Anzahl der Feuerwehrleute hier bis 2031 eingebrochen sein im Vergleich zu 2011. Die Unterschiede gehen sogar noch tiefer, bis hinein in die Kommunen. Denn so sind die Feuerwehren organisiert, auf Gemeindeebene. Es kann also sein, dass es bei der Wehr in einem Ort mit dem Nachwuchs läuft, während die drei Orte weiter vor dem Aus steht. Letzteres wird immer häufiger.
Man muss gar nicht weit schauen. Es ist nur anderthalb Jahre her, da stellte im Landkreis Main-Spessart die Freiwillige Feuerwehr in Oberwittbach den Dienst ein und löste sich auf. Die Liste ist lang, in ganz Bayern: Eckarthausen bei Schweinfurt. Egg an der Günz im Unterallgäu. Anhofen im Unterallgäu. Fernmittenhausen in Oberbayern. Hanfeld in Oberbayern. Über 100 Feuerwehren haben seit Anfang der 80er Jahre in Bayern zugemacht. Und die ganz große Welle könnte erst noch kommen.

Hat Heiko Betz Angst, dass auch die Gemündener Feuerwehr irgendwann gar nicht mehr ausrücken kann? „Zur Zeit …“, setzt Betz an und atmet einmal tief durch: „… noch nicht.“ Doch momentan hat er nur vier Leute in der Jugendfeuerwehr. Gerade erst hat wieder einer aufgehört. Wegen Corona konnten sie kaum Übungen machen. Gleichzeitig werden seine Aktiven immer älter, er ist auch schon 50. Und diese Probleme teilen sie sich mit den meisten anderen Feuerwehren in Bayern.

Vor der Lagerhalle schließen Emma und ihre Mit-Trupplerin das zweite Wasserrohr am Wasserverteiler an. Der Rückstoß von 200 Litern pro Minute fühlt sich an, als müsse man gegen das Wasser im Seilziehen bestehen. Wasser Marsch! Kurz straucheln die Frauen, fangen sich aber ziemlich schnell. Der Angriffstruppler hat es gesehen. „Wenn sie es losgelassen hätten, dann…“, sagt er, pfeift „Pfiiiiiith“ und kreiselt mit seinem Zeigefinger in der Luft herum, wie es ein Vogel mit nur einem Flügel oder eben ein losgelassener Feuerwehrschlauch tun würden. Er lacht dabei herzlich wie jemand, der da aus Erfahrung sprechen kann.
Seine Mit-Trupplerin erzählt, dass sie aus der Pfalz sei, hierher eingeheiratet. Sie lacht. Anfangs hätte sie gar nicht mitmachen wollen, aber der Tim habe sie lange beschwätzt. Ein typischer Tim-Interwies-Überzeugungs-Satz geht so: „Wenn hier fünf Leute nein sagen, dann ist das etwas ganz anderes, als wenn in der Stadt fünf Leute nein sagen.“ Inzwischen ist sie froh darüber. In ihrem Pfälzer Heimatdorf, 3.000 Einwohner, werde gerade diskutiert, die Feuerwehr aufzulösen.

Auf dem Dorf, heißt es gern, würden die Traditionen noch wichtiger genommen. Je weniger Häuser, desto näher stünden sich die Leute. Hier sei das mit der Rekrutierung neuer Leute für die Wehren noch einfacher. Weniger Vereine, weniger Freizeitangebote, weniger Ablenkung. Selbst in Rengersbrunn sagen sie das, wenn man nach „ihrem Geheimnis“ fragt. Doch sind es gerade die kleinen Dörfer, die ihre Wehren schließen. Das kann die Antwort also nicht sein. Welche dann?

Am Rand des Geschehens stehen ein paar Kinder, manche sind schon in der Jugendfeuerwehr, manche noch zu jung. Emma war mal eine von ihnen. Kurz nach ihrem 12. Geburtstag nahm sie ihre Mutter an die Hand, sie klingelten an der Tür des Übungswarts. Der sagte nur: „Mach mer’s.“ Kurze Zeit später baute sie ihren ersten Wasserwerfer auf. Sie weiß noch, dass sie heimkam und ihrer Mutter davon erzählte: „Dieses Gefühl, das war Stolz.“ Emma erinnert sich auch an das Zelten im Sommer, an die Wandertage mit den anderen Kindern und Jugendlichen. Inzwischen hat die Feuerwehr Instagram. Wenn wer umzieht, braucht man nur in die Feuerwehr-WhatsApp-Gruppe schreiben, dann sind am nächsten Morgen acht Leute da und schleppen Möbel. Emma sagt: „Die Erwachsenen haben viel gemacht, dass die Feuerwehr attraktiv ist für uns.“

Elf Kilometer weiter ist der Gemündener Kommandant Betz ratlos. „So schlecht können wir ja nicht sein“, sagt er. Die letzten beiden Kreisbrandräte, die obersten Feuerwehrler im Landkreis, seien Gemündener gewesen. Er erzählt von vielen schönen Abenden mit der Truppe, vom Fußballschauen im Stüberl. Und das letzte Feuerwehrfest vor der Pandemie erst! Da hat’s sogar Wild mit Klössen und Blaukraut gegeben, es war super besucht. Doch am Ende sei niemand sei bei der Feuerwehr hängen geblieben. Genauso wie bei den zwei Tagen der offenen Tür zuvor. Genauso wie beim Ferienprogramm. Wenn Betz auf Facebook Einsätze postet, sehen das zum Teil 5.000 Leute. Wenn von denen mal wer unter den Post kommentiert, weiß er, dass wieder ein Tippfehler drin war.

Und ist seine Feuerweher bei Instagram, wo die Leute inzwischen sind? Und Zelten mit der Jugendwehr, so wie in Rengersbrunn? „Wer soll das alles machen? Wir haben die Leute nicht dafür“, sagt Betz. All das wirkt wie ein Abwärtsstrudel, aus dem man, einmal darin gefangen, schwer wieder heraus kommt. Am Anfang des Gesprächs hatte Betz erzählt, dass sie immer öfter gerufen werden, um Haustüren aufzubrechen. Wenn früher ein Briefkasten überquoll, hatten die Nachbarn einen Schlüssel. Heute rufen sie die Feuerwehr. „Es war mal mehr Zusammenhalt“, sagt Heiko Betz.

Die Stube im Rengersbrunner Feuerwehrhaus ist ein ehemaliger Abstellraum, zwei Tische aus dunklem Holz, ein paar Stühle und Irmgard. Man versteht sie nicht mehr so gut, aber vielleicht ist das auch der alte Spessarter Dialekt, den sie spricht. Sie sitzt neben dem Kühlschrank und reicht Spezi und Bier heraus. An den Kommandanten, den Vize, an Emma, ein paar Kinder. Alt und jung, alle beisammen. Manchmal steht Irmgard auf und ordnet Getränkekisten um oder mischt für das Dorf-Urgestein Weinschorlen in Coca-Cola Gläsern. Die, die es immer mal wieder bei McDonalds-Aktionen gibt. Jeder hat in der Rengersbrunner Feuerwehr seinen Platz.
Irmgard ist die Wirtin. Die Stube nennen sie „Florianiklause“. An den Wänden hängen die Fotos vergangener Wehren. Auf einem Bild sind nur Frauen abgebildet. Bis in die 1960er-Jahre hinein durften Frauen in Bayern nicht zur Freiwilligen Feuerwehr. Ausnahme: die beiden Weltkriege, als die Männer fehlten.
Dann, 1962, kam Paula Hagemann. Sie stammt tatsächlich auch aus dem Landkreis Main-Spessart, genauer aus Deutelbach, etwas südwestlich von Gemünden. Neun Personen brauchte es damals, um eine Feuerwehr zu gründen. Kurz vor der Prüfung sprang einer der Männer ab, Hagemanns Ehemann überredete sie zum mitmachen: „Was der kann, kannst du auch.“ Also stand sie mit geliehener Uniform und Rock vor dem Prüfer. „Das geht nicht: Eine Frau…So kann ich keine Prüfung abnehmen“, soll er gesagt haben. Er forderte, sie solle sich zumindest eine Hose anziehen. Hagemann rannte daraufhin zu ihrem Vater, lieh sich eine, bestand die Prüfung, nur um kurze Zeit später ein Schreiben des Landesamts für Feuerschutz zu bekommen. Nur Männer dürften zur Freiwilligen Feuerwehr. „Mit vorzüglicher Hochachtung“ teilte man ihr mit, dass man hoffe, dass ihr „das Bewusstsein, den Feuerwehrmännern ihrer Gemeinde auf ihre Art geholfen zu haben, über die Enttäuschung hinweghelfe“. Es dauerte ein Jahr, bis 1963, dass sie dann doch beitreten durfte. In Rengersbrunn zogen die Frauen nach. In den 70ern hatte das Dorf schon eine eigene Frauenfeuerwehr.

Ein älterer Herr, der Vor-Vor-Vorgänger von Tim Interwies, hat einige alte Zeitungsausschnitte in die Florianiklause mitgebracht, einen davon zur Frauenfeuerwehr. „Damals waren 15, 16 Feuerwehrfeste im Jahr“, erzählt er mit brüchiger Stimme. „Irgendwann sind die Frauen den Männern aufs Dach gestiegen.“ Die Männer würden jedes Wochenende auf die Feuerwehrfeste gehen und sie säßen daheim rum. „Dann sind sie halt dazu, haben mitgetrunken und es war a Ruah.“

Das Geheimnis von Rengersbrunn liegt also auch in seinen Frauen.

Es sind Geschichten wie diese, deretwegen Marius Rabe vom Landesfeuerwehrverband Bayern sagt: „Wir wollen weg von dem stereotypischen Bild des Feuerwehrmanns, der seine Sorgen wegsäuft, der seinen Bart als Rauchschutz hernimmt. Sowas wollen wir nicht. Das ist auch unrealistisch.“ Innerhalb der Feuerwehr habe sich das schon lange gewandelt, sagt Rabe, und langsam sehe man die Resultate auch nach Außen.
Was ist nun das Geheimnis von Rengersbrunn? Am nähsten scheint die Antwort in einer Geschichte von Emma zu liegen. Als sie 14 Jahre alt war, musste sie mit ihrer Familie aus dem Haus neben der stillgelegten Fabrik ausziehen, in der lange Bettzeug hergestellt worden war. Die Familie wollte unbedingt im Ort bleiben, aber Wohnraum war knapp. „In anderen Dörfern hätten die Leute vielleicht ‚is ma wurscht‘ gesagt“, glaubt Emma. In Rengersbrunn aber kam das Pfarramt auf die Familie zu. Seitdem wohnt Emma „heilig“, im ehemaligen Pfarrhaus. Sie kennt in Rengersbrunn sogar die meisten Katzen mit Namen, sagt sie. „Ich verbinde das Gefühl, zuhause zu sein nicht mit einem Haus, sondern mit Rengersbrunn und den Leuten hier.“ Und den Leuten, denen soll nichts passieren.

Und es gibt noch eine andere Erklärung. Sie beginnt mit einer Legende. Um das Jahr 1170 soll sich Kaiser Friedrich Barbarossa beim Jagen im Spessart verirrt haben. Kurz vorm Verdursten stieß er im dichten Wald endlich auf eine Quelle. Er trank das Wasser und glücklich, überlebt zu haben, ließ er an diesem Ort einen Brunnen errichten. So soll Rengersbrunn entstanden sein. Neben diesem Brunnen wurde 200 Jahre später ein Gnadenbild in einem Haselnussbusch gefunden. Die Leute brachten es in die einzige Kirche der Umgebung. Doch das Gnadenbild tauchte immer wieder an derselben Stelle in dem Busch auf. Rengersbrunn wurde ein Pilgerort. Im Dorfzentrum steht eine Kirche, so groß, dass alle Rengersbrunner drei Mal hineinpassen.

Dann kam der Winter 1999. Ein 18- und ein 30-Jähriger fuhren spätnachts zusammen nach Hause. Am Brunnen kam das Auto von der Straße ab und raste in die Kirchenmauer, zwei Menschen waren tot. Man muss in der Florianistube nur die Tür aufmachen, da kann man den Unfallort auf der anderen Straßenseite sehen. „Ich hab die zwei noch gut gekannt“, sagt einer.

Die Ausrüstung der Rengersbrunner Feuerwehr damals: ein Anhänger, eine Pumpe, ein paar Schläucher, drei Rohre, eine vierteilige Steckleiter, ein Verbandskasten. Die Ausrüstung war nicht gut genug, um angemessen zu helfen. Sechs Monate später brannte das Haus links neben dem Feuerwehrgebäude ab. Wieder konnten sie nicht gut genug tun. Für was braucht es eine Feuerwehr, wenn man nicht helfen kann? Es habe damals eine Diskussion gegeben, kleinere Feuerwehren zusammenzulegen, erzählt Tim Interwies. Aber für Rengersbrunn war die Diskussion nun beendet. Sie wollten helfen können. Also kauften sie aus eigenen Mitteln ein Feuerwehrauto. Noch einmal wollen sie so einem Unglück nicht machtlos gegenüber stehen.

Kurz nach neun Uhr Abends fährt der Kommandant den Reporter zum nächsten Bahnhof und zum letzten Zug zurück nach Würzburg. Die Übung heute sei etwas lässiger gewesen, sagt Tim Interwies. Trotzdem: Vom ersten Sichtkontakt bis zum ersten „Wasser Marsch“ habe es nicht einmal fünf Minuten gedauert. Er ist zufrieden. Wir kurven durch dunklen Wald und über schmale, dunklen Straßen. Interwies erzählt, wie er über Jahre so viel gearbeitet habe, dass kaum Zeit zu leben war. Er erzählt, wie seine Frau an Krebs erkrankte. Seitdem setzt er andere Prioritäten. Vor zwei Jahren starb seine Frau. Mit seinen Kindern stand er dann auf dem Friedhof etwas dorfauswärts. Der schwerste Moment seines Lebens, und wegen Corona durfte kaum jemand zur Beerdigung kommen. Hinter der Friedhofmauer sah er plötzlich seine Truppe. Sie hatten die Büsche am Hang dahinter ausgerissen und standen nun da mit 200 anderen, um ihm beizustehen. Das habe ihm viel bedeutet, sagt er. „Wir passen auf uns auf.“

Infokasten

Im Landesfeuerwehrverband Bayern sind 7.521 Freiwillige Feuerwehren und 7 Berufsfeuerwehren (in Städten über 100.000 Einwohnern) organisiert. Dazu gibt es 156 Werkfeuerwehren und 53 Betriebsfeuerwehren. „Von der Zahl der Leute her, kann eine Feuerwehr oft so groß sein wie ein mittelständisches Unternehmen“, sagt Marius Rabe, Bildungsreferent im Landesfeuerwehrverband. Er ist außerdem Konfliktberater, unter anderem zuständig für das Programm „Lebendig, fair, vielfältig“. Es ist eine Konfliktberatung für Feuerwehrleute. Denn, in einer Umfrage unter ehemaligen Ehrenamtlichen war „Schwierigkeiten mit anderen Ehrenamtlichen“ der meistgenannte Grund fürs Aufhören, noch vor Zeitmangel, beruflichen Verpflichtungen und familiären Gründen.
Der Landesfeuerwehrverband arbeiten seit Jahren daran, das Ehrenamt Feuerwehr attraktiver zu machen. Ein Vorschlag des Verbandes ist, Feuerwehrarbeit mit Punkten im Rentensystem zu belohnen. Kommunen könnten außerdem kleine Boni ausgeben sowie etwa Gratiseintritt ins Schwimmbad gewähren. Die Feuerwehr sei für jeden da, sagt Rabe. „Es gibt auch Leute, die sagen, ich kann niemanden aus dem Auto rausschneiden. Aber das muss man auch nicht. Es gibt viele Aufgaben, für die Leute benötigt werden.“ In Umfragen der respektiertesten Berufsgruppen ist die Feuerwehr ganz vorne. Marius Rabe sagt: „Viele Menschen haben kein schlechtes Bild von der Feuerwehr, aber ein falsches.“