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Warum steigen eigentlich alle auf Berge?

Nach zwei Jahren Pandemie öffnet die einzige Disco in meiner bayerischen Heimat wieder. Was als alkoholschwangere Reise in meine Jugend beginnt, entwickelt sich zur Lektion über das Erwachsensein. Irgendwie nett.

Bis zum ersten halb angenehmen Small Talk dauert es keine zwei Minuten.

Ich: »Hey.«
Er: »Hey, wie geht’s?«
Ich: »Schlecht.«
Er: »Ah.
«

Es rattert.

Er: »Machst du das noch mit der Schreiberei?«
Ich: »Jaja.«

Er: »Aha.«


Es ist wieder Samstagabend. Eine Woche zuvor bin ich 28 Jahre alt geworden. Mac Miller, Kurt CobainJimi Hendrix. Meine Helden waren in diesem Alter schon tot. Und ich? Stehe in der Schlange vor dem Eventhouse, der einzigen Disco in meiner bayerischen Heimat, und bin unverhältnismäßig stolz darauf, an meine Weggehjacke gedacht zu haben. Abgenutztes Leder, so löchrig und dünn, dass sie der verzweifeltste Dieb nicht anrühren würde. Mein Körper bibbert. Damn. Ich habe da wohl doch etwas übersehen.


Zwei Jahre erwachsener

Das Eventhouse ist ein besonderer Ort, dieser Samstagabend ist ein besonderer Abend. Während der gesamten Pandemie hatte die Disco meiner Jugend geschlossen, heute macht sie wieder auf. Es werden viele da sein, die ich nur selten gesehen habe, seit ich vor zehn Jahren von hier wegzog. Wir werden Small Talk halten:

Hallo, wie geht’s dir?
Hallo, was machst du so?
Hallo, weißt du noch damals, als du…?
Hallo unangenehme Erinnerungen.

Die Frage nach dem »Weißt du noch« ist die schlimmste. Hier kennen mich die meisten nur als Jugendlichen, als den Aufmerksamkeitsdeppen, der ich einmal war. Einer, der nie verlieren konnte. Der durch die theoretische Führerscheinprüfung fiel und seinen Freund:innen dann einen mit Paint veränderten Ergebniszettel zeigte.

Während der letzten beiden Pandemiejahre war das alles weit weg. Ich war selten in der Heimat, habe noch seltener Menschen von früher getroffen. Ich bin erwachsen geworden – dachte ich zumindest.


Berggehen statt feiern gehen

Mit mir in der Schlange stehen Anna und David. Wir kennen uns seit zwölf Jahren. Bald werden sie heiraten, für eine Summe, bei der mir schwindlig wird. Aber immerhin habe ich die beiden nicht ans Bergsteigen verloren, an Windbreaker-Jacken und Für-Sonnenaufgänge-Aufstehen. So wie viele andere meiner Jugendfreund:innen.


Endlich dürfen wir acht Euro Eintritt bezahlen und bekommen dafür ein orangefarbenes Papierbändchen ums Handgelenk geklebt. Drinnen wabern uns generische R'n'B-Beats entgegen. Es ist noch nicht mal halb elf. So früh war ich seit zehn Jahren nicht mehr feiern.Ich hatte vergessen, dass es Eintritte gibt. Wie ich zuvor vergessen hatte, dass man für einen Klub Bargeld braucht. Oder dass man zum Weggehen ja aus dem Haus muss.

Eines der Fenster im Raucherbereich, den die Betreiber:innen »Smoke Station« nennen, ist nach zwei Jahren Pandemie noch immer mit Sperrholz verkleidet. Es gibt auch eine »Church-Area«. Die heißt so, weil darin eine hölzerne Kanzel steht, von wo die Schiedsrichter:innen Bierpong-Turniere überwachen.


Von einer der Poledance-Stangen bin ich mal heruntergefallen, oberkörperfrei. Keine Chance, dass ich das heute noch mache.

Wir sind ganz Gewohnheitsmensch, gehen also in die Main-Area und an dieselbe Stelle wie früher, direkt zwischen Haupt- und Nebenbar, unter einer der Boxen. Kurze Wege zu Musik, Alkohol und Toilette. Ich erinnere mich, wie Freund:innen hier halbe Ausbildungsgehälter in Wodka Bull investierten und an alle neu gefundenen und danach wieder vergessenen »besten Freunde« austeilten. You get a Vodka Bull, and you get a Vodka Bull. Everybody gets a Vodka Bull!


Auch wenn Anna, David und ich nicht in aller Herrgottsfrühe auf Berge rennen: Unsere Lust auf Exzess ist merklich weniger geworden. Ich schaue rüber zu den Sitzgruppen. Dazwischen Poledance-Stangen. Von einer bin ich mal heruntergefallen, oberkörperfrei. Keine Chance, dass ich das heute noch mache.


Die Ex-Freundin

Auf dem Weg vom Klo zurück in die Stammecke sehe ich die Locken meiner Ex-Freundin auf mich zu drängen. Kurz versuche ich, mich in eine fremde Menschentraube wegzuducken, scheitere an zu breiten Rücken und schäme mich. Die erste Liebe, sie hat es beendet, ich war sehr traurig. Fünf Jahre ist das her. Martin, du Depp. Reiß dich zusammen.

Wir: »Heeeey.«

Eine zögernde Umarmung. Vielleicht ist es die Absenz von Licht, aber sie hat sich wirklich kaum verändert.

Ich: »Wie geht’s dir?«
Sie: »Gut, und dir?«
Ich: »Auch.« (glatt gelogen)
Sie: »Mhm.«

Ich presse die Lippen zusammen, nicke und wir schieben uns aneinander vorbei.


AAAHHHHHHH.


Als David und ich vorhin noch einmal Geld holen waren, sagte er zu mir: »Jetzt hör doch einfach auf zu denken. Es ist doch so egal, was die Leute von dir halten. Das ist Jahre her. Hab' einfach eine schöne Zeit.« Ich beschließe: Er hat recht und ich jetzt eine schöne Zeit. Und wie beginnt die in einer Dorfdisco? Mit wahllosen Gesprächen an der Bar.


Zwei-Meter-Mann neben mir: »Hast du Migrationshintergrund?«
Ich, der bayerischst aussehende Bayer, lache: »Sehe ich so aus?«
»Nö«, sagt er und lacht auch.


Ein Typ schenkt mir eine Dose Red Bull. Der Exzess der anderen macht mich irgendwie glücklich, der Abend dreht sich – nicht nur mit der Menge an Alkohol wird er immer besser. Irgendwann kann ich sogar zu Chris Brown viben. Yeah yeah yeah.


Die Jugendfreundin

In der »Smoke Station« suche ich David und Anna. Stattdessen finde ich eine Jugendfreundin, mit der ich seit fast zehn Jahren nicht mehr gesprochen habe.

Mit ihr ist der Small Talk auf einmal nicht mehr weird. Und auch schnell nicht mehr small. Claud (»Claudia sagt nur mein Dad, wenn er sauer auf mich ist.«) war wahrscheinlich meine erste weibliche Freundin. Wir verbrachten unsere Jugend in Hütten und Bauwagen, tranken zu kaltes Bier und warmes Flügerl (schwarzer Wodka und Red Bull). Viel anderes gab es bei uns nicht zu tun.


Während ich nach acht Stunden Arbeit Nickerchen mache, baut Claud mit ihrem Freund ein Haus. Zwei Kinderzimmer.

Ob sie auch auf Berge steige? »Tatsächlich«, sagt sie und lacht. Seit drei, vier Jahren würden das alle machen. Am Anfang habe sie es auch gehasst. Aber inzwischen… »Es gibt frische Luft, Bewegung und einen Ausblick. Aber nur ab und zu gehe ich – zum Quatschen.«

Inzwischen ist sie Teilabteilungsleiterin im Landratsamt. Die Verkörperung meines Gegenteils, quasi. Während ich nach acht Stunden Arbeit Nickerchen mache, baut sie mit ihrem Freund ein Haus. Zwei Kinderzimmer. Mehr werde es auch nicht brauchen, sagt sie und lacht.


Wir sprechen darüber, was es heißt, erwachsen zu sein. Wo beginnt es? Die erste eigene Wohnung? Den Schnaps sein lassen und stattdessen »Siedler von Catan« und ein Gläschen Wein? Heiraten? Kinder bekommen? Der Kauf des ersten Sommerschals?

Ich: »Fühlst du dich erwachsen?«
Sie: »In vielerlei Hinsicht, ja. Ich kriege meinen Alltag gut hin. Ich bin nie planlos. «
Ich: »Warum nur ›in vielerlei Hinsicht‹?«
Sie: »Wenn es mir nicht gut geht, bin ich noch eine Heulsuse, die zur Mama rennt. Das könnte ich sicher auch mit mir selbst ausmachen.«
Ich: »Was ist da so schlimm daran, Hilfe zu holen?«
Sie: »Gar nichts.«


Irgendwann sagt Claud: »Erwachsensein ist ein Platzhalter, der für jeden etwas anderes bedeutet.« Ein Synonym, unter das die erste selbst gewaschene Ladung Wäsche genauso fallen kann wie Kinder zu bekommen. »Wissen, wo man hin will – und dann dort ankommen«, sagt sie – auch wenn das Ziel ein Sommerschal ist.


Für mich war Erwachsensein immer eine Summe aus Verantwortungen. Mit dem Alter lässt einen die Gesellschaft immer mehr los, man muss selbstständiger werden. Man beginnt zu arbeiten, steigt auf, verliebt sich zu doll, gründet einen sogenannten gemeinsamen Haushalt. Irgendwann muss man anfangen, sich aktiv um seinen verfallenden Körper zu kümmern, um das Geflecht aus Verantwortungen weiter schultern können. Man will es ja auch.


»Wissen, wo man hin will – und dann dort ankommen«, hat Claud gesagt. Vielleicht sollte ich das mit dem Grübeln über Vergangenes lassen, über Paint-Fails und Ex-Freundinnen. Dann komme ich vielleicht auch an.


Gute Nacht

Meine erwachsene Blase meldet sich wieder. Ein paar Minuten später stehe ich am Pissoir. Links steht einer zwei Meter hinter mir und damit auch zwei Meter vom Klo entfernt. Mit glasigem Blick versucht er, hineinzutreffen. Wie damals in der vierten Klasse. Jetzt weiß ich, wo ich hin will – nach Hause. In der Main-Area tanzt ein Typ allein an der Poledance-Stange. Ein Mädchen sitzt daneben und schaut auf ihr Handy. Am Boden liegen Glasscherben.


Anna und David habe ich seit Stunden nicht gesehen. Am Ausgang stolpern wir wieder übereinander. Ich ziehe meine Ausgehjacke aus ihrem Versteck, blicke ein letztes Mal zurück in die »Smoke Station« und sehe das mit Sperrholz verkleidete Fenster. Was soll's, dass es eingeschlagen ist. Irgendwann wird es repariert werden. Ist ja in Ordnung, wenn nicht immer alles sofort passiert.


Gott sei Dank muss ich morgen nicht auf einen Berg.

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