Erst gestern hat Sammy den 16. Strich gemacht. Arnold. "Hat sich aufgehangen." Unruhig schaut er nach rechts und links, späht über die Reeperbahn nach der Polizei und fliegenden Flaschen. Nach Junkies, die nicht mehr klarkommen und Ärger suchen. Sammy zählt die Toten seit November. Er kannte die meisten von ihnen, nicht gut, aber alles Leute, mit denen er mal auf der Straße geschlafen hat, Platte gemacht oder "in einem Laden war" - "Kollegen" eben.
Nicht nur Sammy zählt. Der Senat zählt. Die Opposition zählt. Das Straßenmagazin Hinz&Kunzt zählt. Sie alle versuchen, die Ahnung zu beziffern, die seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie viele hatten: Dass die Pandemie kaum eine Gruppe so hart treffen wird wie die 50.000 Obdachlosen in Deutschland. Während sich die meisten Menschen in Deutschland hinter Haustüren und Bildschirmen zurückzogen, Ladenbesitzer Jalousien runterließen, Wirte Schlösser an sonst dauergeöffnete Kneipen hängten, blieben die übrig, die weder Home noch Office besitzen und keiner Ausgangssperre nachkommen konnten.
Nirgendwo zeigt sich deren Not so deutlich wie in Hamburg. Die Hamburgische Bürgerschaft zählt 13 tote Obdachlose in diesem Winter. Im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor waren es nur fünf. Die Hamburger Rechtsmedizin zählt sogar 17 Todesfälle, manche von ihnen kamen vor ihrem Tod noch ins Krankenhaus. Die Rechtsmediziner fassen die Todesursachen der Verstorbenen so zusammen: "innere Erkrankungen, Verletzungen, Vergiftungen und Unterkühlungen".
Konkret bedeutet das:
Paul nahm sich am 11. Januar das Leben.
Leslaw erlitt auf dem leeren Kiez einen Herzinfarkt.
Jonathan sprang von der Hebebrandbrücke.
Robert starb an einer Alkoholvergiftung.
Thomas an einer Überdosis.
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