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Aber morgen scheint die Sonne wieder - WELT

PCB in der Schule, wackelige Jobs: Die Einwohner von Nürnberg-Langwasser müssen mit Nackenschlägen leben

Verdammt" steht mit Kreide auf der Betonwand geschrieben. Aus dem Aschenbecher am Eingang zur U-Bahnstation Langwasser Süd qualmt es, die Toiletten riecht man bis zum Bus-Wartehäuschen. In der Telefonzelle ging eine Scheibe zu Bruch, das Licht flimmert, als würde es jeden Moment ausgehen. Rund 30 Jahre ist es her, dass die erste U-Bahn in Nürnberg von Langwasser Süd zur Bauernfeindstraße stadteinwärts fuhr. Seitdem hat sich hier wenig getan. Der Bahnhof wirkt in etwa so trist wie der Zustand der kriselnden Unternehmen Grundig und Lucent Technologies, von der PCB-verseuchten Georg-Ledebour-Schule ganz zu schweigen.

Die schlechten Nachrichten brechen über die Einwohner des Nürnberger Stadtteils Langwasser herein, als würden sie sie anziehen. Manche Familien in der Trabantenstadt sind inzwischen so gebeutelt, dass sie sich über jede positive Nachricht freuen. Sabine Schellenberger etwa freut sich wie die Eltern der anderen rund 600 Ledebour-Schüler, dass die Kinder nur für ein Halbjahr auf sieben Standorte verteilt werden, dass bis Februar für einen Teil der Klassen Bustransfers eingerichtet werden, dass kein Schichtunterricht stattfindet und dass die Klassen selbst erhalten bleiben. Und vor allem freut sich Sabine Schellenberger, dass ihr 15-jähriger Sohn Martin ab Februar erst zehn Minuten vor acht Uhr aus dem Haus gehen muss, weil der Unterricht im Container-Dorf auf einem nahe gelegenen Verkehrsübungsplatz stattfindet. "Darüber sind wir glücklich", sagt Sabine Schellenberger.

Bei den Mitarbeitern des ehemaligen Vorzeigeunternehmens Lucent Technologies im Industriegebiet am anderen Ende des Ortsteils, an dem die meisten der etwa 36.000 Langwasseraner nur selten vorbeikommen, ist der Frust einem galligen Humor gewichen. Im Werksfenster an der Beuthener Straße hängt ein Plakat: "Heute im Angebot: Lucent Technologies. Die Immobilie besticht durch eine freundliche Architektur, saubere lichtdurchflutete Räume, gute Verkehrsanbindung, Gartenanteil, mit modernster Technologie."

Noch laufen Gespräche der deutschen Geschäftsführung des US-Konzerns zum Verkauf des Werks. Namen wollen weder Lucent noch Stadtkämmerer Ulrich Maly (SPD) nennen, weil sich die Verhandlungen in einer "sensiblen Phase" befänden. Die Mitarbeiter hoffen, dass durch einen Verkauf ein Großteil ihrer 750 Arbeitsplätze erhalten bleiben kann: "Ich mache mir dauernd Gedanken um meine Zukunft", sagt Robert Licha (Name geändert), der seit einem Jahr bei Lucent beschäftigt ist und auch in Langwasser wohnt: "Ich kann mich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren." Robert Licha steht vor der Frage, ob er wieder umziehen muss. In eine andere Stadt. Wie damals, als der Oberpfälzer extra wegen des Jobs nach Nürnberg gekommen war.

Die wirtschaftliche Krise raubt Langwasser seine beiden Global Player. Vor Lucent hatte Grundig direkt nebenan beschlossen, seine Fernsehfertigung nach Wien zu verlagern. Zusammen mit dem Standort Bayreuth sollen bis Jahresende knapp 900 Stellen wegfallen. Die Fertigung von Lucent ist in ehemaligen Grundig-Gebäuden untergebracht. Vor dem zwei Meter hohen Zaun leuchtet schon länger ein Schild: "Landesaufnahmestelle des Freistaats Bayern". Asylbewerber sind hier untergebracht. Russlanddeutsche, von denen es in Langwasser viele gibt, leben meist in Hochhäusern, die so aussehen wie Plattenbauten. Das kommt nicht von ungefähr.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Langwasser zunächst Internierungs- und Flüchtlingslager. 1947 erhielt die Stadt Nürnberg das Gelände zurück, ein Jahr später wurde der Ortsteil zur Bebauung freigegeben. Die ersten Wohnblöcke wurden Anfang der 50er Jahre fertiggestellt. Dann stockte die Bebauung. Noch heute gibt es in der Trabantenstadt überdurchschnittlich viele Grünflächen. Die gute Infrastruktur und die vorzügliche Verkehrsanbindung durch nahegelegene Bahn- und Autobahnanschlüsse sowie durch die U-Bahn lockte Unternehmen an - so wurde Langwasser abhängig von wirtschaftlichen Hochs und Tiefs.

Wolfgang Sy, Vorsitzender des Bürgervereins in Langwasser, will nicht schwarz sehen: "Wir sind nicht die einzigen, die es trifft. Lucent und Grundig sind ein Problem für ganz Nürnberg, weil viele Arbeitnehmer über die Stadt verstreut wohnen." Wegen der einst florierenden Unternehmen und der guten Infrastruktur mit Nürnbergs erstem Einkaufszentrum zogen immer mehr Bewohner nach Langwasser, bis auf den heutigen Tag. "Wir haben einen starken Zuzug", so Sy. Immer noch gebe es Unternehmen und Gegenden, die expandieren: die Großdruckerei Maul-Belser etwa. Oder der Eurocom-Dienstleistungspark im Norden, in dem sich neben dem Bekleidungsunternehmen Wöhrl, mehreren Ärzten auch Bereiche des städtischen Umweltamts angesiedelt haben. Dieser Teil von Langwasser wächst laut Sy kontinuierlich.

Langwasser ist einer der größten Stadtteile Nürnbergs, und durchaus schön gelegen. Im Süden der Lorenzer Reichswald, im Ortskern Parks und Wiesen, im Norden der Langwassersee. Im Osten und im Süden stehen die Einfamilienhäuser. Zu denen, die sich hier wohlfühlen, gehört auch Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU), der in einem weißen Bungalow in der Nähe des Freibads wohnt.

Nur Cafés, Kneipen gibt es in dem Stadtteil kaum. Wenn das Einkaufszentrum in Langwasser Mitte schließt, bleibt jungen Leuten nur McDonalds. Mit ihrem Freund sitzt die 24-jährige Laura Zylla in dem Schnellrestaurant, von einer Krise in Langwasser will auch sie nichts hören: "Ich habe meine eigenen Probleme", sagt sie. "Ich war nie auf der Ledebour-Schule, arbeite nicht bei Lucent - das berührt mich alles nicht." In einem Bekleidungsgeschäft winkt eine Verkäuferin ab: "Auch wenn ein paar Leute aus Langwasser ihren Job verlieren, kommen immer noch genügend Leute zum Einkaufen. Trotzdem." Rund 600 Hektar groß ist Langwasser. Zu groß, als dass in dem Stadtteil die Bürger miteinander um Lucent und Grundig bangen oder mehr als einen Gedanken an das Umweltgift in der Schule verschwenden. Wer weiß, was morgen wieder ist . . .

Nur Betroffene, schließen sich zusammen. Sie wissen: Nur gemeinsam sind wir stark! So, wie die Eltern der Kinder an der Ledebour-Schule. "Ohne den Druck der Eltern hätte sich die Stadt vermutlich mehr Zeit gelassen, den Neubau auf den Weg zu bringen", glaubt Schulleiter Diethard Warm. Nun soll bis zum Jahr 2003/2004 das neue Gebäude stehen. Die Eltern tauschen sich trotzdem weiter aus, wollen am 17. September vorsorglich einen Forderverein gründen, mit dem die Geschädigten eine Klage gegen die Stadt durchziehen könnten, kündigt Elternsprecher Lars Stiefvater an. Extra für die Feriensitzung des Stadtrats hatte Stiefvater, früher selbst ein Ledebour-Schüler und ein "eingefleischter Langwasseraner", seinen Urlaub auf Sylt unterbrochen, war mit dem Zug zurückgefahren. Die Eltern haben sich solidarisiert, wollen endlich Klarheit haben, wie stark ihre Kinder durch das Umweltgift geschädigt wurden.

Bei Martin Schellenberger wurden erhöhte PCB-Werte im Blut festgestellt. Ein Freund von Martin leide unter Akne, andere Schüler unter Migräneanfällen, berichtet die Mutter. "Möglicherweise kommt das von dem PCB. Es hätte viel früher gehandelt werden müssen!"

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