Wer heute nach Istanbul reist oder etwas über die Schöne am Bosporus liest, wird oft eine Plattitüde zu hören bekommen: Die Stadt ist längst nicht mehr das, was sie einmal war. Interessant ist, dass bereits der italienische Romancier Edmondo De Amicis bei seiner Reise nach "Stambul" im vorletzten Jahrhundert ähnlich urteilte. Und das, lange bevor die Wohnblocks und Wolkenkratzer aus dem Boden schossen.
Noch ehe De Amicis mit dem Roman "Cuore" zu Weltruhm gelangte, stach er zu einer Reise an den Bosporus in See. Istanbul war sein Sehnsuchtsziel, die Schifffahrt dorthin ein langgehegter Traum. Seine Reiseerinnerungen wurden im Jahr 1878 unter dem Titel "Constantinopoli" herausgegeben. Obwohl 1882 ins Deutsche übersetzt, ruhten sie 130 Jahre unbeachtet im Schatten von berühmteren Schilderungen wie denen seiner französischen Kollegen Gustave Flaubert und Pierre Loti. Nun hat der Hamburger Corso-Verlag ausgewählte Istanbul-Erzählungen von Edmondo De Amicis in einer Neuübertragung ins Deutsche herausgegeben. Entstanden ist ein schönes, leinengebundenes Buch mit 45 historischen Fotografien. Die Übersetzerin hat das Italienisch des Originals in ein so formvollendetes Deutsch übertragen, dass die Lektüre zum Genuss wird.
Folgen wir also De Amicis in das alte Istanbul, wie es kein heute lebender Mensch mehr gekannt hat. Das Buch beginnt mit der Einfahrt in die Stadt. Detailversessen beschreibt der Autor die gespannte Stille an Deck, als die ersten Umrisse der Stadt im Meeresnebel auftauchen. Er kann sich vor Euphorie kaum mehr halten: "Volle Fahrt voraus! Könige, Fürsten, Krösusse, ihr Mächtigen und Begünstigten der Welt, in diesem Augenblick hatte ich Mitleid mit euch. Mein Platz auf dem Schiff war mehr wert als all eure Schätze, und nicht für ein Königreich hätte ich einen meiner Blicke hergegeben."
Einmal an Land gegangen, reiht De Amicis wie in einem Film eine bunte Kulisse an die nächste. Mit offenen Sinnen, die alles einfangen, was ihn umgibt, spaziert der Italiener durch die Metropole. Bewundernd berichtet er vom lebhaften Völkergemisch auf der Galata-Brücke, streift durch stille Gassen am Ufer des Goldenen Horns und zählt die sonderbaren Waren im Basar auf. Fast meint man, selbst den Händlern gegenüberzustehen, wenn De Amicis ihre Schlitzohrigkeit beschreibt: "Bietet ihr ein Drittel, lassen sie zum Zeichen tiefster Entmutigung die Schultern hängen oder schlagen sich verzweifelt an die Stirn oder verstummen oder ergehen sich in einer Flut leidenschaftlicher Worte, um euer Herz zu rühren." Wenngleich er als Kind seiner Zeit durch die orientalistische Brille blickt, sind De Amicis' Schilderungen doch immer respektvoll und an vielen Stellen äusserst kenntnisreich - seien es die Anmerkungen zu einer türkischen Vokabel oder die Erklärungen fremder Brauchtümer.
Immer wieder reflektiert De Amicis bei seinen Spaziergängen über das Schicksal der alten Weltreiche, die in Istanbul ihr Ende fanden. Melancholisch denkt er an das Los Konstantinopels und sieht in einem moosbewachsenen Brunnen den Niedergang des Osmanischen Reichs besiegelt. Von Angst um die Seele der Stadt getrieben, malt er fast prophetisch eine Drohkulisse von Bauwut und Umweltzerstörung.
Man kann ihm recht geben und widersprechen zugleich. Istanbul hat sich drastisch verändert, doch die Stadt ist eine alte Seele. Immer noch beflügelt und verzaubert sie ihre Besucher wie zu De Amicis' Zeiten. Denn niemals, versichert uns Umberto Eco, der mit einer Ausgabe von "Constantinopoli" im Gepäck das erste Mal nach Istanbul reiste, höre diese Stadt auf, sie selbst zu sein.
Edmondo De Amicis: Istanbul, Hauptstadt der Welt. Übersetzt von Annette Kopetzki. Mit einem Nachwort von Umberto Eco. Corso-Verlag, Hamburg 2014. 192 S., Fr. 54.90.