München - Es ist der Hass auf sich selbst, der ihn auffrisst. Um nicht daran zu verzweifeln, erzählt Manuel Bauer, einst Neonazi, seine Geschichte - wieder und wieder. Unter den Zuhörern sind auch seine Opfer. Wie die junge Inderin aus Berlin, die ihn über E-Mail fragt: „Wissen Sie, wer ich bin?" Erinnerungsfetzen steigen in Bauer auf. Er ahnt es: die indische Familie, das fünfjährige Kind. Das Kind ist jetzt eine Frau, und die hat viele Fragen. Sie bittet ihn, nach Berlin-Friedrichshain zu kommen. Zwei Stunden reden sie. Dann geben sie sich die Hand. Verzeihen wird sie ihm nicht. Aber Bauer weiß: Das ist auch nicht möglich.
Der heute 35-Jährige hat Dönerbudenbesitzer erpresst, einen Afrikaner wegen seiner Hautfarbe geschlagen und den eigenen Vater mit einem Butterfly-Messer verletzt. Früher war er mit Glatze und Springerstiefeln unterwegs, heute trägt Bauer Hut. Als er in Tutzing im Kreis Starnberg vor Schülern steht, ragt der weiße Hemdkragen aus dem Pullover. Er sagt Sätze wie: „Wenn ihr jemanden mobbt, tut ihr der rechten Szene einen richtig tollen Gefallen." Aber auch: „Ich muss den persönlichen Kontakt suchen, damit ich mich nicht allzu sehr hasse." Dabei hat er vor acht Jahren noch rechte Parolen geschwungen und neue Kameraden für die Neonazi-Szene geworben. In den Schülern arbeitet es, so still ist es selten in einer Klasse. Ihre Gesichter lassen sich schwer lesen. Zweifeln sie? Ist es Abscheu? Verständnislosigkeit?
Bauer macht es den Buben und Mädchen nicht leicht. Äußerlich betrachtet sieht er harmlos aus. Offen erzählt er von seiner Vergangenheit. Er hat's drauf, er kann reden. Und dann passiert es: In seinen Erzählungen verschwimmt das, was war, und das, was ist. Er wird zum Neonazi, spricht von der Rassenideologie und von Menschen zweiter Klasse. Irgendwann verlagert er das Gewicht aufs andere Bein. Und Bauer ist wieder der Alte, der sagt: „Wenn ein Kollege von euch über Jahre hinweg gehänselt wird, ist er froh, wenn er jemanden findet, der ihn beschützt." Rechte würden gezielt an Schulen nach solchen Opfern suchen.
Nach seinem Vortrag ist der 35-Jährige erschöpft, verausgabt. Er sitzt allein in einer Ecke des Tutzinger Pausenhofs und raucht. Es war eine gute Stunde. Bauer misst das an den vielen Fragen, die die Schüler gestellt haben. Eine Frage kommt wieder und wieder: Warum?
Auch die Inderin in Berlin hat ihn das gefragt. Bauer konnte ihr darauf nur schwer eine Antwort geben. Und dann sagt er doch: „Aus Hass!"
Der kam mit der Wende. Manuel Bauer wuchs in der Kreisstadt Torgau (Sachsen) auf. Als er zehn Jahre ist, fällt die Mauer. Die Arbeitslosigkeit breitet sich aus. Bauers Vater verliert seinen Job, er fängt mit dem Trinken an. Es wird viel gestritten, nie geschlagen. Die Familie zerbricht, der 13-Jährige sucht Halt. Bereit stehen da die Kameraden, die Arme weit geöffnet: „Es gab kein Aufnahmeritual, keine Prüfungen oder Mutproben. Die Glatze war meine Eintrittskarte in die rechtsradikale Welt."
Und Bauer gibt Volldampf: Jahr für Jahr steht er vor Gericht. Weil er gerne mit Waffen hantiert, ist sein Spitzname „Pistole". Mit 21 wird er wegen „räuberischer Erpressung in besonders schwerem Fall" zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Diesmal war das Opfer ein schwuler Geschäftsmann aus Torgau. Bauer will auch ihm später die Hand reichen. Doch der Geschäftsmann ist froh, als Bauer die Stadt wieder verlässt. Er traut ihm und seinem weißen Hemdkragen nicht.
Bauers Wandlung hat sich nicht von heute auf morgen vollzogen. Erst nach und nach bröckelte die braune Kruste von ihm ab. Der erste Riss? Vielleicht, als er der Liebe seines Lebens begegnet, die mit Fremdenhass so gar nichts anfangen kann. Als der Neonazi ihr seine Welt erklärt, sagt sie nur lapidar: „Das ist eine echt beschissene Welt." Monate später muss Bauer ins Gefängnis. Jahre später sehen sie sich wieder und heiraten.
Im Knast merkt Bauer: Auf die Kameraden ist kein Verlass. Keiner meldet sich, keiner besucht ihn. Und dann riecht er beim Hofgang auch noch Marihuana. Hinter der nächsten Ecke stehen sie, die Gesinnungsgenossen. Einer hält einen Joint. Kiffen wird in der rechten Szene nicht geduldet - es ist „undeutsch". Aber hinter hohen Gefängnismauern interessiert das niemanden. Bauer rastet aus: „Tickt ihr noch ganz richtig?" Zur Antwort bekommt er ihre Fäuste auf die Rippen. Und dann passiert etwas, das wird Bauer noch lange beschäftigen. „Ausgerechnet zwei türkischstämmige Mithäftlinge haben mir geholfen", erinnert er sich. Wieder ein feiner Riss.
Für Bauers damaligen Zustand hat Bernd Wagner, studierter Kriminalist, ein Wort: „Zweifelmodus". Wagner hat im Jahr 2000 das Aussteigerprogramm „Exit Deutschland" gegründet, gemeinsam mit dem Ex-Neonazi Ingo Hasselbach. „Der Bulle und der Obernazi", Wagner lacht. Er hat einen eindringlichen Blick, seine Haare sind grau, er trägt Brille. Dann wird er ernst: „Manuel hat sich an uns gewandt. Es kam ihm alles komisch vor, sein Tun und Handeln und die Ideologie, für die er einstand", erzählt der 59-Jährige. 18 Jahre lang war Wagner Polizist, zuletzt Kriminaloberrat im Gemeinsamen Landeskriminalamt der neuen Bundesländer.
Wagner hat schon viel gesehen und erlebt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt, dass es in Deutschland ungefähr 5800 Neonazis gibt. Allein seit der Gründung von „Exit" war die Organisation mit 550 Personen beschäftigt. Nur zwölf haben den Ausstieg nicht geschafft. Die anderen sind „stabil" geblieben, wie Wagner es formuliert. Jährlich 20 von ihnen betreiben Aufklärungsarbeit.
Wagner redet schnell, er hat diese Tage alle Hände voll zu tun. „Exit Deutschland" hat Mitte November die Aktion „Neonazis laufen gegen Rechts" in Wunsiedel (Oberfranken) organisiert, bei der rund 10 000 Euro zusammenkamen. „Es hätte auch schieflaufen können", sagt Wagner. Doch Vorbereitung sei alles.
Ähnlich ist es bei den Menschen, die sich an ihn wenden. „Es fängt meistens mit einem langen Brief an", sagt der Kriminalist. Seite für Seite legen Zweifler unaufgefordert ein Geständnis ab. Wie sie in die Szene abgerutscht sind. Zu welcher Kameradschaft sie gehören. Wie lange sie bereits bei den Rechten aktiv sind. Und was sie getan haben. „Dabei geht es den meisten nicht um eine Absolution", sagt Wagner, „sondern sie wollen, dass wir verstehen, wie das alles passieren konnte." Bis schließlich ein erstes Treffen möglich ist, können Monate vergehen. Es ist ein gefährliches Unterfangen, denn die Kameraden bleiben wachsam.
Das spürt Manuel Bauer bis heute. Drohungen gehören zu seinem Leben. Wenige Wochen nach seinem Schulbesuch sitzt er in einem Café in irgendeiner deutschen Stadt. Bauer lebt in Oberbayern. Wo, das hält er geheim. Zum Kaffee bestellt er Spezi. Er spricht von seiner Organisation „Manuel-Bauer-Consulting", die er 2012 gegründet hat und die über Rechtsextremismus, Rassismus, sexuellen Missbrauch aufklärt. Man denkt, dass Bauer mit aller Macht „wiedergutmachen" will - wo er nur kann. Früher wollte er nur eines: Deutschland von „Kanaken", Juden, Schwulen befreien.
Bauer beobachtet unablässig die Passanten. „Der schaut ständig rüber", sagt er. Seine rechte Hand schließt sich fest um die Sonnenbrille. Ein Jugendlicher lehnt an der Wand, seine Augen wandern die Straße entlang. Irgendwann ist er weg. Bauer ist seit seinem Ausstieg nicht abgetaucht, jedenfalls nicht ganz. Seine Arbeit führt ihn quer durchs Land. Er war auch schon im Fernsehen und im Radio zu Gast. 2012 veröffentlicht er sein Buch „Unter Staatsfeinden" und rechnet mit seinem alten Leben und den Menschen darin ab.
Es scheint, als könne Bauer nur durch das Erzählen seiner eigenen Geschichte damit leben. Wagner, der Kriminalist, kennt das: „Manche hören nach einer Weile damit auf. Andere fühlen sich jedoch berufen, so wie Manuel." Es sei wichtig, seine Schuld zu bekennen und keine Ausflüchte dafür zu finden. Gerade Manuel schildere sehr authentisch seine Taten und Erlebnisse. Wagner: „Viele Zuhörer strapaziert das, sie können nicht glauben, wie übel der Mensch sein kann. Aber man sollte genau hinhören." Dann höre man ein Bekenntnis. Und eine Warnung.
Was bleibt, ist sein Hass, der sich nun gegen ihn selber richtet. Wieder erzählt Bauer. Die indische Familie von damals - die lässt ihn nicht los. Bauer senkt den Kopf, schaut auf den Boden, seine Finger krümmen sich. Er war damals gerade vom Polizeirevier gekommen. „Ich hatte so einen Hals", sagt er und fasst sich mit der rechten Hand an die Kehle. Er lief vom Revier nur wenige Meter, und dann standen sie da - der indische Vater, die Mutter und die Fünfjährige, nur sie wird er später wiedersehen. „Wie großkotzig die da rumstanden", sagt Bauer. Der Mann habe in gebrochenem Deutsch noch gesagt: „Kein Problem!" Doch für ihn waren sie gleich drei Probleme. Bauer wischt sich über die Stirn. Er schwitzt, es kostet ihn Überwindung, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Ja, er hat den Mann und die Frau geschlagen. Pause. Und das kleine indische Mädchen auch. Sie ist jetzt eine Frau, die ihm nicht verzeihen kann.
Manuel Bauer wird sich weiter hassen.