1 subscription and 0 subscribers
Feature

Der Unbezwingbare

(Foto: Simon Toplak)

Felix Brunner (25) war schon als Bub vom Bergsteigen und Skifahren fasziniert. Mit 19 Jahren änderte sich sein Leben schlagartig: In den Bergen stürzte er in eine 30 Meter tiefe Schlucht. Er überlebte – trotz lebensgefährlicher Verletzungen. „Gebe niemals auf!“, ist sein Motto. Als erster Rollstuhlfahrer hat er mit einem Handbike die Alpen überquert. 2018 will er an den Paralympischen Spielen in Südkorea teilnehmen.


München - Dreck und Wasser spritzen nach allen Seiten, die drei Räder holpern über Wurzeln und Steine: Felix Brunner aus Hopferau (Kreis Ostallgäu) sitzt auf seinem Handbike und beißt die Zähne zusammen, auf der Stirn glänzen Schweißperlen. Weiter, immer weiter. Er will es sich beweisen. Er will der Erste sein, der mit einem Offroad-Handbike-Trike das Alpenmassiv überquert.

Das war im Sommer 2013. Brunner, der nach einem schweren Bergunglück vor sechs Jahren an den Rollstuhl gefesselt ist, hat es tatsächlich geschafft. Von Füssen bis an den Gardasee hat er sich durchgeschlagen: 9 Tage, 480 Kilometer, 12 000 Höhenmeter, größtenteils über klassische Mountainbike-Strecken. Seine ganz persönliche Tour des Alpes findet sich auf einem Video im Internet. Der 25-Jährige arbeitet heute erfolgreich als Motivationsexperte.

In den kurzen Sequenzen sieht man auch, wie seine kräftigen Hände die zwei Kurbeln umklammern, die über einen Kettenantrieb mit dem Vorderrad verbunden sind. Drehung für Drehung gibt Brunner seine Energie an das Bike ab. Es ist die gleiche Energie, die ihn vor sechs Jahren am Leben gehalten hat. Und das, obwohl ihn die Ärzte schon abgeschrieben hatten.

In den Bergen aufgewachsen, ist er mit 19 Jahren ein leidenschaftlicher Kletterer und Skifahrer: Da ereilt ihn die „größte Niederlage in seinem Leben“. Mit zwei Freunden ist er im Tannheimer Tal in Tirol unterwegs. Die drei klettern an einem vereisten Wasserfall. „Es war wirklich eine ganz leichte Tour“, beteuert Brunner heute. Er sei bestimmt keiner von denen, die Gefahr suchen, das Klettern sei für ihn damals reiner Ausgleich zu seiner Ausbildung als Krankenpfleger gewesen. Ausgerechnet auf dem Rückweg passiert es. Die jungen Männer bahnen sich gerade auf einem schmalen Pfad den Weg ins Tal. Da stürzt Brunner 30 Meter in ein Flussbett. „Dabei bin ich immer wieder aufgekommen, hab mich überschlagen“, erzählt der Sportler. Auf Steinen und Eisbrocken bleibt er schließlich liegen. Ob er ausgerutscht sei oder gestolpert? Er weiß es bis heute nicht.

Aber er kann sich noch daran erinnern, dass er laut geschrien habe. Schmerzen fühlt er keine, das Adrenalin hält sie zurück – noch. Seine „Kumpel“ steigen zu ihm hinab: „Atme weiter, bleib da“, wiederholen sie immer wieder. Brunner bleibt ruhig, als aktiver Bergretter kennt er das Szenario zu gut: „Mir war klar, dass etwas ganz Schlimmes mit mir passiert ist.“ Wärme breitet sich langsam im Becken und Bauch aus. Er gibt sogar noch Anweisungen, da versetzt ihn der Notarzt vor Ort in ein künstliches Koma. Ein Hubschrauber der Bergwacht fliegt den Schwerstverletzten in die Murnauer Unfallklinik.

Die Ärzte dort geben ihm keine Chance, sagen zu den Eltern: „Der Felix wird die Komplikationen nicht überleben.“ Sie sollen Abschied nehmen. Verletzungen in diesem Ausmaß, die wenigsten überleben das: Becken und linker Oberschenkel sind total zertrümmert, die Rippen gebrochen. Brunner verliert vier Liter Blut – der Mensch hat nur sechs bis sieben. Doch am nächsten Morgen schlägt Brunners Herz immer noch, und auch am folgenden. Ein Wunder. Fünf Monate verbringt er so im künstlichen Koma. Dann wird er aufgeweckt.

„Das Erste, was ich gedacht hab: Ach Scheiße, Pfingsten ist ja vorbei.“, sagt Brunner. Denn da sei er zu dieser Zeit normalerweise auf Sardinien oder Mallorca zum Klettern unterwegs gewesen. Überhaupt habe er auch in dem Jahr auf der Intensivstation ganz selten daran gezweifelt, dass er wieder sein altes Leben aufnehmen werde. Oberstes Ziel: „Ich will wieder zurück an den Berg.“ Mit Freunden plant er vom Krankenbett aus schon eine Tour. „Ich bezeichne das heute als extrem naiven Optimismus“, sagt Felix Brunner. Aber das habe ihn über die schwere Zeit hinweggeholfen.

Das Leid hält an: Die Wunden heilen nicht. Brunner muss ein zweites Mal in ein künstliches Koma versetzt werden, eine Maschine beatmet ihn währenddessen. Es folgen lebensgefährliche Komplikationen: Lungenentzündung, septische Schocks, Herzrhythmusstörungen und Multiorganversagen. Ein Kontrastmittel verträgt er nicht. Das Blut gerinnt nicht mehr, es kommt aus Nase, Mund und Ohren, sogar aus der Haut. 360 Blutkonserven erhält er binnen kurzer Zeit. Im Krankenhaus hat Brunner mehr als 60 Operationen überstanden. Als ihn seine Eltern nach Hause holen, ist er ein Pflegefall.

Sein „zweites Leben“ beginnt, wie der 25-Jährige selbst sagt. Nach und nach freundet er sich mit dem Gedanken an, dass alles nie wieder so sein wird wie vor dem Bergunglück. Da findet er beim Rollstuhl-Basketball einen neuen Freund. Der fährt trotz Behinderung Auto und macht regelmäßig mit seinem Handbike Touren. Ein neuer Weg tut sich Brunner auf. Er lässt sich aus den USA auch ein solches Handbike kommen. „Das gibt es in Europa leider nicht.“ Der Ehrgeiz, vielleicht auch der Dickkopf, ist wieder ganz da. „Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder du akzeptierst oder du resignierst“, resümiert Brunner. Sein Motto sei nun mal: „Gebe niemals auf!“

Etwa zu dieser Zeit widmet er sich wieder seiner zweiten großen Leidenschaft: dem Skifahren. Die Geschwindigkeit, das Losgelöstsein von der Schwerkraft, das reizt ihn jetzt umso mehr. Ein Monoski ist die Lösung. Dabei ist auf einem Carvingski ein gefederter Rahmen mit Sitzschale angebracht. Das Gleichgewicht hält man mit kleinen Skiern am Ende von zwei kurzen Stöcken.

Zu den ersten Fahrversuchen findet sich ebenfalls ein Videoclip, diesmal auf Brunners eigener Homepage (felixbrunner.de). Anfangs nimmt er noch ganz vorsichtig Kurve für Kurve. Später fährt er um Tore – wird schneller und schneller.

Und mit der Geschwindigkeit kommt auch der Erfolg: In dieser Saison hat sich der Hopferauer in den Disziplinen Slalom und Riesenslalom für den Europacup qualifiziert. Und es geht noch weiter: Den ganzen Winter verbringt er beim Training mit dem Monoski. Denn sein großes Ziel ist die Teilnahme bei den Paralympischen Spielen in Pyeonchang 2018, Südkorea. Aber davon redet er nicht gern. Das ist noch allzu fern. Wichtiger sind ihm seine gerade aktuellen Projekte.

Er hat sich als Motivationsexperte eigenständig gemacht. Damit gibt er anderen ein Stück von seiner scheinbar grenzenlosen Energie ab. „Ich war schon immer ein redefreudiger, offener Mensch“, beschreibt er sich. Als Gastredner bei einer Spendenaktion habe er das Talent entdeckt. Den ersten Vortrag hat er in einer Reha-Klinik noch für 50 Euro gehalten. Immer mehr Menschen treten an ihn heran. Bis er in der Frankfurter Jahrhunderthalle vor rund 2000 Menschen spricht.

Er wird Botschafter des Blutspendedienstes des Bayerischen Roten Kreuzes und Botschafter der Bayerischen Akademie für Werbung und Marketing (BAW) in München. „Ich will Menschen mit Behinderung ermutigen, in Sachen Karriere etwas zu erreichen“, sagt er. Er selbst studiert an der BAW Sport-Marketing, ein berufsbegleitender Studiengang, der mit dem FC Bayern entwickelt wurde. Man darf also gespannt sein: Brunner hat noch viel vor.

Aufstehen, hinfallen, aufstehen, das lernen wir schon als Kind. Felix Brunner scheint das mehr als jeder anderer verinnerlicht zu haben. Am Ende seiner Tour des Alpes erreicht er den Gardasee. Als er mit seinem Bike ankommt, wartet sein Team schon auf ihn – darunter seine Freunde und der Vater. Das Wasser des Sees funkelt in der Sonne, nach der rauen Bergwelt gleicht der Anblick einer Oase. Brunner genießt den Moment. Später wird er sagen: „Es ist eine wahnsinnige Genugtuung für mich zu zeigen, was auch als Sportler im Rollstuhl möglich ist.“ Und es gibt bestimmt Menschen, die er damit motiviert.