Landsberg - Eigentlich ist es unhöflich, jemanden mit einer Kerze zu vergleichen. Aber nachdem Joseph Escher aus Landsberg sein ganzes Leben lang die wächsernen Gesellen verkauft hat, muss ein Versuch erlaubt sein. Und irgendwie passt es. Aufrecht und still steht der 71-Jährige hinter seinem Verkaufspult. Vor ihm steht ein Sortiment Osterkerzen. Darauf in Rot: Alpha und Omega, der Anfang und das Ende. Das Kinn hat der Landsberger leicht angehoben, der Blick ist starr auf die Eingangstür gerichtet. Escher in Warteposition.
Dann schrillt die Türglocke, eine Frau betritt den Laden in der Altstadt. Und es passiert. Ein Strahlen breitet sich langsam über Eschers Gesicht aus. Geschäftig kommt er hinter seiner Theke hervor, fragt nach dem Befinden der Kundin. Die möchte Wachsplatten kaufen. Er berät sie. Blaue, grüne, gelbe und gemusterte sind noch im Sortiment. Die anderen sind bereits verkauft. Escher scheint wie verwandelt, die Freude am Verkaufen merkt man ihm an. Fast scheint es, als habe jemand ein Licht in ihm entfacht - wie bei einer Kerze eben.
Der Laden an der Ecke ist Eschers Leben. Seit 35 Jahren betreibt er ihn zusammen mit seiner Frau Ingrid. Nach Ostern ändert sich nun alles. An der Hauswand, neben dem Eingang, hängt ein Schild. Darauf steht: „Wir schließen - Ausverkauf". Mit 71 fühlt sich Escher zu alt fürs Geschäft. Und der Handel mit den Kerzen lohnt sich auch nicht mehr. „Die Kunden basteln jetzt lieber selber ihre Oster- und Weihnachtskerzen", erklärt er. Genau wie die Kundin, die sich nach den Wachsplatten erkundigt hat. 80 Cent kostet eine. „Und da will sie auch noch handeln", sagt Escher und lacht amüsiert. Er kennt seine Kundschaft, er kennt sie einfach zu gut.
Draußen an der Hauswand bröckelt schon der rosa Putz ab. In den beiden Schaufenstern sind neben Kerzen auch kunstvolle Holzkrippen, geschnitzte Holzfiguren, Marienbilder und Rosenkränze ausgestellt. Allein vom Kerzenhandel hätte das Geschäft über die Jahre nicht bestehen können. Eine leichte Staubschicht bedeckt die Waren. Die hölzernen Fensterrahmen haben auch schon bessere Zeiten gesehen.
Escher ist schon als kleiner Stöpsel zwischen den großen Regalen und der Verkaufstheke umhergesprungen. Mit roten Bäckchen und in speckigen Lederhosen hat er seinem Vater nach der Schule immer geholfen. Damals war das Geschäft noch ein Kolonialwarenladen. Das war es schon, als der Urgroßvater im 19. Jahrhundert eingeheiratet hat. „Wir haben damals noch offene Ware verkauft, von der Seife bis zum Waschpulver", sagt Escher. Während er spricht, starrt er versonnen auf einen Punkt an der Wand gegenüber, als würde dort ein Film ablaufen - womöglich in Schwarz-Weiß. „Meine Schwester und ich haben mit dem Fahrrad die Waren ausgefahren", erzählt er dann, „links und rechts am Henkel eine Tasche und auf dem Gepäckträger noch einen Korb." Bei der Erinnerung muss er lachen. Nie sei ihm was runtergefallen.
Die Angst vor dem Vater, der recht streng sein konnte, war zu groß. Als der alt und gebrechlich wurde, übernahm Escher das Geschäft und brachte eigene Ideen mit. Das war auch nötig, denn Anfang der 80er kamen die großen Supermärkte. Tante-Emma-Läden waren nicht mehr gefragt. „Wir mussten uns was einfallen lassen", erklärt der gelernte Einzelhandelskaufmann. Die Idee mit dem Kerzenladen war geboren.
Schritt für Schritt haben die Eschers ihr Sortiment umgestellt. „Es gab ja auch anfangs keine so große Auswahl", erinnert sich Ingrid Escher. Sie schlägt einen Katalog mit Taufkerzen auf. „Die hatten früher zehn bis zwanzig Seiten. Heute haben sie hundert." Mit dem Angebot wird die Kundschaft wählerischer. Und Kerzen mit weihnachtlichen Motiven gehen überhaupt nicht mehr. Nur noch Tauf- und Kommunionkerzen. Und für die bieten die Eschers einen besonderen Service.
Joseph Escher klebt kleine goldene Wachsbuchstaben auf den Rücken einer Kerze. Seine Hände zittern leicht. Langsam wird der Name „Alexander" erkennbar. Der Bub wird am Weißen Sonntag zur Erstkommu- nion gehen. Ganze Generationen hat der Ladenbesitzer so begleitet. Hunderte Buchstaben hat er auf großen, kleinen, dicken und dünnen Kerzen angebracht.
Ende April ist Schluss damit. In den Regalen steht aber noch einiges, das muss noch weg. Der Abschied, der fällt Escher nicht leicht. „Ja, das war schon eine schöne Zeit", brummt er, während er weiterklebt, „man hat immer mit neuen Leuten zu tun gehabt." Manchmal sei die Stammkundschaft auch nur „zum Schwätzen" gekommen. Lieblingsthemen: die Stadt, der neueste Klatsch und die ewig schlechte Parksituation. Auch die Kunden werden den Laden um die Ecke vermissen. „Wo soll ich denn jetzt meine Kerzen kaufen?", fragt eine Kundin ganz entrüstet.
Ein Nachfolger für Eschers Laden ist nicht in Sicht. Auch die drei Kinder hatten kein Interesse am Geschäft. Noch hat Escher aber die Hoffnung nicht aufgegeben. „Es wäre natürlich schön, wenn wieder ein Kerzenladen hier einziehen wür- de", sagt er und schaut sich um. Die Rosenkränze hängen an ihrem Ständer, still und würdig. Escher wirkt etwas verloren.
Ist die alte Eingangstür ein letztes Mal ins Schloss gefallen, wollen er und seine Frau die Räume renovieren. Ein langsamer Abschied, wie er zu Escher passt. Dann suchen sie einen neuen Mieter. Escher tritt an eines der großen Regale und rückt vorsichtig die Plastikschachteln mit den Marienkerzen zurecht.
Es sind schon einige Lücken im Sortiment. Der Countdown läuft. In dem kleinen Laden an der Ecke gehen nun fürs erste die Lichter aus. Aber bekanntlich steht Kerzenlicht auch für Erneuerung. Und vielleicht ist es Zeit für die Eschers, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Alpha und Omega, da sind sie wieder.
Maria Gerhard