Sabine und Bernd Maier haben sie aufgenommen - die beiden können sich ein Leben ohne die Siebenjährige nicht mehr vorstellen. Aber darf das Mädel für immer dableiben? Sie hoffen es.
München - Kleine Kinderhände tasten vorsichtig unters Bettlaken: Luisa, damals zweieinhalb Jahre alt, steht am Ehebett ihrer neuen Pflegeeltern. Sie heißen Sabine und Bernd Maier. Die Kleine hat Angst. Sie hat Angst, dass ihre Eltern über Nacht verschwinden - einfach so. Denn das ist Luisa schon ein paar Mal passiert. Plötzlich waren ihre Eltern weg. Luisa war zuvor bei zehn verschiedenen Familien in Kurzzeitpflege.
Doch jetzt hat sie bei Sabine und Bernd Maier, die im Landkreis München wohnen, endlich ein Zuhause gefunden. Eine Heimat. Einen Ort, wo sie hingehört. Heute sagt Luisa, inzwischen sieben Jahre alt, „Mama" und „Papa" zu ihnen. Keine Selbstverständlichkeit. Sabine Maier, 40, kann sich noch gut an die ersten Tage mit Luisa erinnern. „Ich konnte damals nicht einmal einen frischen Pullover anziehen, ohne dass sie angefangen hat zu brüllen", erzählt sie. Das Gleiche ist beim Wechseln der Laken des Kinderbettes geschehen. Jede Veränderung war für das Kind eine Qual. „Wir haben dann kleine Tricks angewandt", sagt Sabine Maier. Die Bettwäsche hat sie schließlich mit Luisa gemeinsam gewechselt. Das hat funktioniert.
Luisas Schicksal ist kein Einzelfall. „Die Zahl notwendiger Unterbringungen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen", sagt Birgit Voß, 47, von der Initiative „Eltern auf Zeit - Kindern ein zweites Zuhause geben" des Landkreises München. Die Sozialpädagogin ist auch Ansprechpartnerin für Familie Maier. Erfahrung hat sie genug, seit mehr als zehn Jahren ist sie in diesem Bereich tätig. Im Jahr 2014 konnte die Initiative immerhin neun Kinder in Vollzeitpflege vermitteln.
Etliche Kinder auf der Liste warten noch auf eine Kurzzeit- oder Langzeitpflege. Weshalb die Initiative ständig auf der Suche nach Familien, Paaren, aber auch alleinstehenden Personen ist. „Wichtig ist, Freude am Umgang mit Kindern zu haben, und alle Familienmitglieder sollten die Bereitschaft zeigen, sich auf ein neues Kind mit zwei Welten einzulassen", sagt Voß. Einfühlsamkeit, Geduld, Belastbarkeit und Flexibilität seien unerlässliche Eigenschaften dabei. Eine falsche Motivation - wegen des Geldes zum Beispiel - würde beim Bewerbungsgespräch recht schnell entlarvt werden.
Die Gründe, warum sich leibliche Eltern nicht länger um ihre Kinder kümmern können, sind vielfältig: Erkrankung, Suchtabhängigkeit, physische und psychische Gewalt oder Vernachlässigung. Im Fall von Luisa hat die leibliche Mutter psychosomatische Störungen. Über den Vater ist nicht viel bekannt.
Doch Luisa ist gut aufgehoben. Für Bernd, 45, und Sabine Maier ist sie ein Segen. Luisa, schmal, rote lange Haare und blasser Teint sitzt gerade auf dem Schoß ihrer Mutter. Sabine nimmt eine ihrer langen, braunen Haarsträhnen und kitzelt der Kleinen die Nase. Luisa muss kichern.
Der Banker und die Arzthelferin konnten keine eigenen Kinder bekommen. Die Ärzte wissen nicht warum. Eine Adoption wäre aus Altersgründen schwierig geworden. „Eltern auf Zeit" war der Ausweg. Familie Maier entschied sich für die Langzeitpflege. „Wir waren uns da von Anfang an sicher", sagt Vater Bernd. Zu groß wäre die emotionale Belastung geworden, nach Wochen und Monaten wieder Abschied nehmen zu müssen - wie es bei der Kurzzeitpflege meist die Regel ist. Letzteres kommt eher für Familien in Betracht, die schon Kinder haben oder ältere Menschen, deren Kinder bereits aus dem Haus sind.
Die emotionale Bindung ist ein Grund, warum Familien vor einer kurzen Pflege oft zurückschrecken. Denn hundertprozentige Sicherheit, dass das Kind bleibt, gibt es nie. „Es ist sehr schwierig, ein Kind in seiner Familie aufzunehmen und eine Beziehung aufzubauen, und es dann wieder loslassen zu müssen", sagt Sozialpädagogin Voß. Alles müsse gut überlegt sein. Letztlich bleibt das Sorgerecht bei den leiblichen Eltern oder dem jeweiligen Vormund.
Im Fall der Maiers sieht es jedoch gut aus. Die Zeit arbeitet für die kleine Familie. „Luisa ist jetzt schon so lange bei uns, es wäre nicht zu ihrem Besten, wenn man sie uns wieder wegnehmen würde", sagt Bernd Maier. Die Familie sitzt am Küchentisch. Papa Bernd gibt seiner Tochter Buntstifte. Konzentriert malt Luisa auf ein weißes Blatt Papier sich selbst und ihre Eltern. Der Vater bekommt schwarze, die Mutter blonde und sie selbst natürlich rote Haare. In gelben Buchstaben schreibt sie darüber: Papa, Mama, Luisa.
Zu ihrer leiblichen Mutter hat das Kind nur wenig Bezug. Gerade mal drei Monate haben sie zusammen verbracht. „In unserem Schlafzimmer steht ein Kästchen mit wenigen Babyfotos und Briefen", sagt Sabine Maier. Manchmal, eher selten, öffnet Luisa das Kästchen, dreht und wendet in ihren kleinen Händen die Fotos. Erinnerungen hat sie keine, sie war noch zu jung.
Die ersten Jahre ihres Lebens gleichen einem Puzzle. Kurzzeitpflege folgt auf Kurzzeitpflege. Um Lücken zu schließen, erfindet Luisa, wenn nötig, auch mal Geschichten. Bei Ausflügen mit ihren Eltern sagt sie dann: „Da war ich früher, als ich noch klein war." Aber die Maiers wissen: Das ist nicht möglich.
Damit Luisa weiß, wo sie herkommt, hält die Familie Kontakt zur leiblichen Mutter. So sieht es auch das Jugendamt vor. Die Treffen finden auf einem Spielplatz oder in einer neutralen Wohnung statt. Eine Sozialpädagogin ist immer dabei. „Anfangs gab es noch Konkurrenzkämpfe mit der Mutter, aber mittlerweile ist sie überzeugt, dass es Luisa bei uns gut hat", sagt Sabine Maier.
Für das Kind waren die regelmäßigen Treffen alle zwei Wochen belastend. „Sie hat danach immer heftig mit Durchfall und Erbrechen reagiert", sagt Pflegemutter Sabine, „sie war immer gewaltig durch den Wind." Deshalb wurden die Treffen auf längere Zeit eingestellt. Erst jetzt, allmählich, bauen die Maiers den Kontakt wieder auf. Zu Weihnachten haben sich Mutter und Tochter zum letzten Mal gesehen. Danach hat Luisa oft weinen müssen.
Dass es nicht immer einfach werden würde, das wussten die Maiers. Ein Jahr lang haben sie sich auf ihre Aufgabe als künftige Eltern vorbereitet. Vom sozialen Umfeld über Einkünfte bis zu ihrer eigenen Beziehung wurden sie gründlich durchleuchtet. Im Sommer 2010 war es dann soweit. Das Kinderzimmer war bezugsfertig. Rosa oder blau? Zunächst haben sie alles neutral gehalten. Denn die Maiers wussten zu dem Zeitpunkt nicht, ob Junge oder Mädchen. Sie wussten auch nicht, wie alt das Kind ist.
Und dann kam Luisa. Zum „Beschnuppern", sagt Bernd Maier, habe man sich zusammen mit dem Betreuer und Luisa auf einem Spielplatz getroffen. „Wir haben eine Stunde lang gespielt", erzählt er, „und eigentlich sollten wir uns eine Nacht Zeit nehmen, um nachzudenken. Aber wir waren uns gleich sicher."
Innerhalb von einer Woche haben die neuen Eltern Möbel, Kleider, Spielzeug und Windeln gekauft. Sabine Maier muss beim Gedanken an die Anfangszeit kurz lachen: „Das mit dem Wickeln mussten wir erst lernen." Sie blinzelt ihren Mann fröhlich an. Der reagiert gespielt empört: „Ich hab immerhin keinen Kurs gebraucht." Er muss grinsen.
Als Luisa kommt, steht schließlich alles für sie bereit. Zur Begrüßung liegt auf ihrem Bett eine weiße Robbe namens „Robbie". Von diesem Tag an sind Robben Luisas Lieblingstiere. Sie kleben an ihrer Wand als Poster oder kommen in ihren Kinderbüchern vor. „Robbie", jetzt nicht mehr ganz so weiß, sondern jahrelang durchgekuschelt, liegt immer neben Luisa, wenn sie einschläft. Mit „Robbie" im Arm hat sie keine Angst mehr, dass ihre Eltern plötzlich wieder verschwinden könnten.
Luisa führt heute ein normales Leben. Sie geht zur Schule und hat Freunde. Wenn sie schimpft, dann zieht sie ein Auge nach oben - ganz wie ihr Papa. „Plötzlich sieht man sich dann in ihr selber, und das ist einfach schön", sagt Bernd Maier, „man bekommt so viel mehr zurück, als man investiert hat."
Und Luisa? Die sucht gerade Urzeitkrebse. Sie hat zu Weihnachten ein Aufzuchtset für kleine Krebse bekommen. Die Tierchen - nur wenige Millimeter groß - sollen im Salzwasser schlüpfen. Das flache Becken scheint jedoch leer zu sein. Aber Luisa ist überzeugt: Einer muss überlebt haben. Ihr Vater lässt sie in dem Glauben. Gemeinsam suchen sie im Wasser nach dem Winzling. Für einen Moment schaut Bernd Maier auf, grinst und sagt: „Letztlich ist es am Ende des Tages nicht anders als bei normalen Eltern auch." Ein schönes Gefühl.
* alle Namen geändert
Original