Was passiert mit kleinen Kindern, deren Mütter eine Haftstrafe verbüßen? In Aichach können sie im Gefängnis aufwachsen. Die kleine Yaren lebt hier seit ihrer Geburt.
Aichach - Die kleine Yaren kam wie eine Prinzessin zur Welt, aber ihre ersten Lebensjahre verbringt sie im Gefängnis. „Sie ist mit ihrem Händchen voran geboren worden", erzählt ihre Mutter. Leyla*, 33, hebt ihre eigene Hand an die Stirn, dann spreizt sie die Finger und sagt: „So, als hätte sie eine Krone auf." Die junge Mutter lacht kurz, drückt ihre kleine Tochter an sich. „Meine Prinzessin." Dann geht sie mit ihr zum Fenster, deutet mit dem Finger auf die Spielgeräte im Hof, durch die eisernen Stäbe hindurch.
Zwei Monate ist das Baby alt. Die braunen Augen sehen noch verschwommen. Yaren kneift sie bereits zusammen, versucht etwas zu erfassen. Wenn die Kleine so weit ist, wird sie den Stofflöwen auf dem Bett ihrer Mutter erkennen, die bunten Bilder an der Wand und die Kugeln am Weihnachtsbaum. Aber dann wird sie auch die Gitter sehen vor den Fenstern der Mutter-Kind-Einrichtung der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Aichach, die Wachtürme und die Mauer, die mit Stacheldraht versehen ist. Es werden ihre ersten Eindrücke von dieser Welt sein. Wird Yaren für das Vergehen ihrer Mutter mitbestraft? Darüber gibt es verschiedene Lehrmeinungen. Fest steht: Eine wirklich behagliche Lösung kann es nicht geben, wenn eine Mutter mit ihrem Kind im Gefängnis sitzt.
Leyla ist eine von zehn Frauen mit Kindern, die im geschlossenen Vollzug der Mutter-Kind-Einrichtung in Aichach untergebracht sind. Sechs Mütter sind im offenen Vollzug. Das weiße Haus in U-Form liegt etwas seitlich des Hauptgebäudes - zwischen Kapelle und Gefängnismauer. In der ersten Etage sind Gitter vor den Fenstern der Schlafräume angebracht. Unten befinden sich ein großer Aufenthaltsraum, Wickelräume und Küche. Gitter gibt es hier nicht. Der Innenhof ist begrünt, es gibt einen kleinen Spielplatz und Bänke. Die Erzieherin Sandra Stadler, 34, rote Locken, offenes Lachen, leitet die Einrichtung. Sie ist gerade auf dem Weg zu ihrem Büro. An der Hand führt sie Leo, zwei Jahre alt, er trägt Windel. Seine Mutter arbeitet gerade in der hauseigenen Gärtnerei. Die beiden laufen durch den „Kammerbereich" der Strafvollzugsanstalt, er ähnelt einem riesigen Keller. Hinter den schweren Türen mit metallenen Essklappen sind kleine Räume. „Hier wechseln die Frauen ihre Kleider, bevor sie in Haft kommen", erklärt Stadler. Es kann vorkommen, dass jemand versucht, Drogen einzuschmuggeln.
In dieser Umgebung wirkt Leo wie ein Fremdkörper, mit seiner blauen Winterjacke und der roten Mütze tapst er neben der Erzieherin her. Stadler bemüht sich sehr um das Wohl der Kinder. Und die bräuchten in den ersten Jahren Nahrung, Pflege und vor allem die Zuwendung ihrer Mütter. Stadler räumt jedoch auch ein, dass Mutter-Kind-Einrichtungen nur die zweitbeste Lösung sind. Ob es ein Kind prägt, hier aufgewachsen zu sein? Sie zuckt mit den Schultern. „Das weiß ich nicht", sagt sie. Es könne schon sein, dass die Kinder später „Schlüsselerlebnisse" haben. Unerwartet kommt ihnen etwas vertraut vor: Das Rasseln von großen Schlüsseln oder grüne Uniformen. Damit die Kinder trotzdem möglichst normal aufwachsen, haben die Mütter und Kinder hier einen geschützten Bereich fernab vom eigentlichen Gefangenentrakt, den sie hier „Flügel" nennen. Um den laufen die Erzieher mit den Kindern stets außen herum. Zudem schaffen Stadler und ihr Team auch im Gefängnis Alltagssituationen: „Wir gehen Enten füttern, einkaufen, gehen zum Kinderarzt und machen Ausflüge, zum Beispiel zum Christkindlmarkt." Die Mütter dürfen nur mit, wenn sie „ausgangsberechtigt" sind.
Leyla verbüßt ihre Haft seit März 2014. Wegen Betruges wurde sie zu eineinhalb Jahren verurteilt. Mehr will sie dazu nicht sagen. Nur, dass sie ihre Tat bereut. Die Münchnerin ist das erste Mal in Haft. Als sie im März nach Aichach kommt, ist sie bereits im sechsten Monat schwanger. Acht Quadratmeter hat eine Zelle im „Flügel". Als sich die Tür hinter Leyla zum ersten Mal schließt, der Schlüssel sich im Schloss dreht, erträgt sie es nicht. Wehen setzen ein. Die Beamten müssen sie beruhigen. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten tröstet sie sich mit dem Gedanken an ihr Ungeborenes. Schwangerschaft und Bindung hängen eng zusammen - auch im Gefängnis. Der Münchner Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Karl Heinz Birsch schreibt: „Angst ist der Gegenspieler von Bindung. Alle Formen von Stress wie Angst, Unsicherheit oder Komplikationen während der Schwangerschaft, unter der Geburt oder in der Zeit danach sind Bindungshemmer." Demnach sind Gefängnisse kein guter Ort für Mütter mit Kindern.
Die Behörden geben sich Mühe. Die Bundesagentur für Straffälligenhilfe hat 2012 Empfehlungen erarbeitet für einen „familiensensiblen Strafvollzug". Dort steht unter anderem: „Eine heimatnahe Unterbringung senkt die finanziellen und zeitlichen Hürden für Besuche von Angehörigen, vor allem der Kinder." In Bayern gibt es nur noch eine zweite Mutter-Kind-Einrichtung - in München.
Über eine dritte im Norden Bayerns wird nachgedacht, sagt der Leiter der JVA Aichach, Konrad Meier, 55, ein korrekter und höflicher Mann. 600 Häftlinge stehen unter seiner Obhut. Davon sind 450 Frauen. Zwölf davon sind derzeit schwanger. Ob eine Frau ihr Baby in einer Mutter-Kind-Einrichtung aufziehen will, hängt zunächst von ihr selbst ab. Sie muss einen Antrag stellen, der vom Jugendamt sehr genau geprüft wird. Meier stellt klar: „Mit seinem Kind in einer solchen Einrichtung zu leben, das ist nur ein Angebot von uns." Die Kinder seien nicht eingesperrt. Der Vater oder die Großeltern könnten sie jederzeit abholen.
Ansonsten pocht er auf die Fakten. Und die zeigen sich in den vielen Akten auf seinem Schreibtisch. „Die wenigsten Frauen kommen aus intakten Verhältnissen", sagt Meier. Für viele Kinder sei es vielleicht ein großes Glück, mit der Mutter und Fachpersonal in einem geschützten Rahmen aufzuwachsen. In manchen Fällen haben die Frauen - bevor sie in die JVA kamen - unter der Brücke gelebt oder in Frauenhäusern.
Nicht nur die Kinder brauchen ihre Mütter, oft ist es auch umgekehrt: Die Kinder geben den Frauen Halt. „Sie tragen zur Stabilisierung der Mütter bei, das ist ein angenehmer Nebenaspekt", sagt Heinz Schöch, ehemals Professor für Jugendrecht und Strafvollzug an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat viele Mütter erlebt, die im Gefängnis kaum ansprechbar waren, weil sie ihre Kinder nicht bei sich hatten. In der Aichacher Mutter-Kind-Einrichtung bekommen sie ein Reich mit drei Zimmern auf 19 Quadratmetern: ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und ein Bad. Die Tage laufen immer gleich ab. Leyla kann den Zeitplan auswendig. 5.15 Uhr: Weckruf per Lautsprecheransage. 6 Uhr: die Tür wird aufgesperrt. Bis 7 Uhr: Frühstück. Bis 8.30 Uhr: wieder Einschluss. Anschließend gemeinsamer Guter-Morgen-Kreis mit den Kindern. Dann Spazierengehen und Mittagessen. Für die Kinder wird frisch gekocht, die Mütter werden über den Caterer versorgt. 12 bis 14 Uhr: wieder auf den Zimmern eingesperrt. Anschließend Spazierengehen, Basteln oder andere gemeinsame Aktivitäten. 16.30 Uhr: die Mütter dürfen mit ihren Kindern auf ihr Zimmer. 19.30 Uhr: Einschluss.
Natürlich langweilt sich Leyla. Sie versucht sich mit Stricken abzulenken, oder sie kuschelt mit Yaren. Sie ist das einzige was ihr geblieben ist.
Noch einen Tag vor der Geburt der Kleinen hat die 33-Jährige im Krankenhaus Fußfesseln tragen müssen. Immer dann, wenn die Aufseherin aus dem Zimmer ging. Yaren ließ auf sich warten. Die Geburt musste eingeleitet werden. Dann endlich: 3719 Gramm schwer, 54 Zentimeter lang. Ein riesiges Baby. Die Nabelschnur schneidet eine Beamtin durch. „Sie hat mich schon in der JVA betreut, und ich wollte, dass sie dabei ist", sagt Leyla. „Ich vertraue ihr." Freundschaft ist zwischen Gefangenen und Aufsichtspersonal nicht vorgesehen - aber Vertrauen, das kann es geben.
Die Mutter nennt das Baby mit zweitem Namen „Yaren". Für Leyla hat das Wort eine ganz eigene Bedeutung: „Geliebt, aber leider mit Liebe getrennt." Eine Anspielung auf den Vater, der in München lebt. Bei drei Stunden Besuchszeit im Monat kann er nicht oft bei ihr sein. Ihre vier Kinder, die weit weg von München leben, sieht sie nie. Sie sind zwischen 10 und 16 Jahre alt. Aber sie tauscht regelmäßig Briefe mit ihnen aus. Als Leyla ihr erstes Kind bekommt, ist sie gerade 16 Jahre alt. Seitdem war sie Hausfrau.
Wenn Yaren einmal groß ist, wird sie Fragen stellen. Warum bin ich in Aichach geboren? Warum sind die Fenster auf den Bildern vergittert? Wer sind die anderen Babys und Mütter? Darauf muss Leyla Antworten geben. Darüber hat sie schon oft nachgedacht. Ihre Augen wandern an der Zimmerdecke entlang, dann sagt sie: „Wenn sie groß genug ist und es versteht, sage ich ihr die Wahrheit." Vielleicht wird Leyla der Kleinen dann auch erzählen, wie sie geweint hat, als sie mit ihrer Neugeborenen im Arm das erste Mal in dem noch fremden Zimmer stand. Die Tür fiel zu, der Schlüssel drehte sich im Schloss. Da hat Leyla das Kind an sich gedrückt und gedacht: „Prinzessin, was hast du verbrochen?"
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* Name von der Redaktion geändert
Von Maria GerhardOriginal