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Saviano-Verfilmung "Der Clan der Kinder": Italiens Ausgeburt

Der Kinofilm "Paranza - Der Clan der Kinder" erzählt von Jugendgangs in Neapel, die nach Luxus und Status streben - auch mit Gewalt. Sie sind das Resultat einer Gesellschaft, die ihren Anstand verloren hat.


Der Mann hatte an der Strandpromenade in Neapel Handyhüllen verkauft. Kurz vor Mitternacht wollte er mit einem Landsmann aus Bangladesch nach Hause gehen, ins Altstadtviertel Quartieri Spagnoli. Doch eine Gruppe Jugendlicher überfiel die beiden, griff einen sogar mit Steinen an. Der liegt nun im Krankenhaus - mit Verletzungen im Gesicht und gebrochenem Kiefer.


Dieser Vorfall, der sich im August in Neapel ereignete, könnte auch aus "Der Clan der Kinder" sein. Der Film kommt am 22. August in die Kinos und erzählt die Geschichte einer Gruppe Fünfzehnjähriger aus Neapel, die sich im kriminellen Milieu hochkämpfen, bis sie über den Stadtteil Sanità herrschen. Der Traum der Gang, einen erpresserischen Clan zu stürzen, um Gerechtigkeit ins Viertel zu bringen, vermischt sich von Anfang an mit anderen Wünschen: Die Jugendlichen wollen schnell Geld machen, Markenklamotten kaufen, respektiert werden. Dafür scheuen sie sich nicht vor Gewalt und Morden. Was ist ein Menschenleben wert, wenn man 15 ist und sich allmächtig fühlt, während man Champagner in einer Luxusdisco trinkt?


"Der Clan der Kinder" hat im Februar bei der 69. Berlinale den Silbernen Bär für das beste Drehbuch gewonnen. Mitgeschrieben hat es Bestsellerautor Roberto Saviano, auf dessen gleichnamigem Roman der Film basiert. Über den Film sagte Saviano einmal, er erzähle "nicht der Welt von Neapel, sondern die Welt durch Neapel". Und darin liegt die Stärke von "Der Clan der Kinder". Der Film zeichnet das Bild eines ganzen Landes, das weit über die Grenzen Neapels Werte und Anstand verloren hat. Wie konnte es so weit kommen?

Italien ist ein Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem Wert harter Arbeit den ersten Artikel seiner Verfassung gewidmet hat. Es ist ein Land, in dem ein Bürgermeister 1991 mehr als zehntausend Bootsgeflüchtete aus Albanien mit den Worten empfing: "Sie sind Menschen, sie sind verzweifelt. Wir können sie nicht zurückschicken, wir sind ihre einzige Hoffnung".


Harte Arbeit, Menschlichkeit - von diesen Werten ist in "Clan der Kinder" keine Spur mehr. Der junge Gang-Chef und seine Freunde Tyson, Biscottino, Lollipop, 'O Russ und Briatò sind "das Abbild einer Generation, die sich dafür entschieden hat, die Werte ihrer Zeit zu verfolgen: Follower, Aussehen, Geld", wie Roberto Saviano in einem Interview sagte. Sie glauben, so sagt es ihr Anführer im Buch, "dass es auf der Welt nur Gearschte und Verarscher gibt". Natürlich möchten sie zur zweiten Kategorie gehören.

Buch und Film basieren auf der wahren Geschichte neapolitanischer Gangs von Jugendlichen, die um die Herrschaft in Neapels Altstadt gekämpft haben. Doch ähnliche Gangs gibt es in ganz Italien. Im Dezember sprühte jemand in einer Disco im zentralitalienischen Corinaldo Pfefferspray, Massenpanik brach aus, fünf Minderjährige und eine Frau starben. Sechs Männer zwischen 19 und 22 Jahren wurden verhaftet, sie nutzten die Panik, um Ketten zu klauen. Von der Polizei abgehört, sagte einer: "Ich steh auf Geld und Adrenalin". Im Mai nahm die Polizei in Venedig und Treviso sieben Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren fest. Sie hatten grundlos Menschen zusammengeschlagen - unter anderem mit einem Schlagring.


Diese Gangs sind das Resultat eines Landes, das seinen Anstand verloren hat. Neulich erzählten meine Eltern beim Abendessen vom großen Korruptionsskandal "Tangentopoli", der 1993 in Italien zum Ende der ersten Republik führte. Politiker aus verschiedenen Parteien hatten Schmiergelder in Millionenhöhe kassiert. Viele Italiener waren damals so empört, dass sie den Regierungschef Bettino Craxi mit 100-Lire-Münzen beworfen.

Als dagegen 2018 ein Berufungsgericht in erster Instanz bestätigte, dass die Lega-Partei von Innenminister Matteo Salvini knapp 49 Millionen Euro für private Zwecke veruntreut hat, hielten sich die Proteste in Grenzen. Warum knickte der kritische Geist der Italiener ein, wollte ich von meinen Eltern wissen, warum ging der Anstand dieser Republik verloren? Ihre Antwort war eindeutig: "Wegen 20 Jahren Berlusconismus".


"Der Clan der Kinder" Originaltitel:Paranza Italien 2019 Regie: Claudio Giovannesi Buch: Roberto Saviano, Maurizio Braucci, Claudio Giovannesi Darsteller: Clara Rugaard, Hilary Swank, Rose Byrne, Luke Hawker, Tahlia Sturzaker Produktion: Palomar, Vision Distribution Verleih: Prokino Filmverleih FSK: ab 16 Jahren Länge: 112 Minuten Start: 22. August 2019

Ich bin Ende der Achtzigerjahre in Italien geboren worden. Ich musste nicht nur erleben, wie Silvio Berlusconi viermal Ministerpräsident wurde, sondern wurde auch von seinen Mediaset-Fernsehkanälen geprägt. Mediaset gehörte zu meinem Alltag - wie zu dem Millionen anderer Italiener: Oft fieberte ich mit meinen Eltern bei einer der vielen Quizshows mit. Einmal war unser Englischlehrer krank, wir bekamen eine Ersatzlehrerin. Sie sprach furchtbar Englisch, aber weil sie an einer Quizshow teilgenommen hatte und einen Pulli mit dem Namen der Sendung trug, hielten wir sie für eine Heldin. Kein Wunder, dass zwei Politiker der jungen Generation, der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi und der heutige Innenminister Matteo Salvini, an Quizshows teilgenommen haben.


Mit 13 träumten viele meiner Freundinnen, "Veline" zu werden. Das sind zwei halbnackte Frauen, eine mit blondem und eine mit braunem Haar, die die Erfolgssendung "Striscia la Notizia" mit Tanzeinlagen unterbrechen. Dass ich mich diesem Traum nicht anschloss, lag eher daran, dass ich mich zu hässlich fühlte, als dass ich in der Objektivierung der Frauen zur besten Sendezeit etwas Verwerfliches sah. Es war schlichtweg normal.

Velina werden, an einer Quizshow teilnehmen, beides verkörpert den Traum, den auch die Gang im Film verfolgt: schnelles Geld, schneller Ruhm. Warum hart arbeiten, wenn es doch so leicht sein kann?


Aber der Berlusconismus hat eine weitere Komponente. Mit ihm war in über 20 Jahren immer wieder ein Mensch an der Macht, der bewiesen hat, dass man unantastbar ist, wenn man Geld hat. Bilanzfälschung? Das macht doch jeder schlaue Unternehmer. Sexpartys mit Minderjährigen? Da weiß halt jemand, wie man lebt. Die Logik lässt sich fortsetzen bis Salvini: Eventuelle Gelder aus Russland für die Lega? Egal, Hauptsache der Innenminister hält uns die Ausländer fern.


Wenn solche Figuren das Land führen, woran soll sich die Jugend orientieren? Wie sollen sie den Wert hart verdienten Geldes höher schätzen als schnellen Reichtum mit allen Mitteln? Und wo soll der Anstand herkommen, wenn die Guten als das Böse stigmatisiert werden wie die NGOs, die im Mittelmeer Menschen retten?

Ist die Situation also hoffnungslos?


Die Journalistin Amalia de Simone hat "Der Clan der Kinder" in einem Kino in Neapel gesehen. Mit ihr im Publikum saßen auch viele "Paranzini", wie die Mitglieder der Jugendgangs in Neapel heißen. In einem Artikel in der Zeitung "Corriere della Sera" beschreibt sie, wie die Paranzini laut und fröhlich ins Kino gingen, hinterher aber schweigsam von dannen zogen: "Vielleicht erinnerten sie sich an einen dieser Urlaube, in dem plötzlich die Polizei vor ihrer Tür stand. Oder an das eine Mal, als das Wetter so schön war und sie sorglos hätten flanieren können, sie jedoch Schlange standen für einen Gefängnisbesuch", beschreibt sie.


Nach der Ausstrahlung der Serie "Gomorrah", die ebenso auf Roberto Savianos Weltbestseller basiert, ließen sich viele Jugendlichen in Neapel die Haare nach der Friseur des Protagonisten Gennaro Savastano schneiden. Sie wollten sein wie er. "Der Clan der Kinder" ist hingegen ein Film, der einem die nackte Realität vor Augen führt. Und kann somit hoffentlich zur Veränderung mit beitragen.

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