Buchtipps Welche Lieblingsbücher Wirtschaftsgrößen empfehlen
Welches Buch wäre das Richtige am Ende des Jahres 2022? Bahn-Vorständin Sigrid Nikutta, Drogerieunternehmer Dirk Roßmann, Eon-CEO Leonhard Birnbaum und andere Spitzenleute geben persönliche Empfehlungen.
Protokolliert von Maren Jensen
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Welches Buch würden Sie jetzt, am Ende des aufregenden Jahres 2022, zur Lektüre weiterempfehlen? Diese Frage hat das manager magazin an Personen gerichtet, die Deutschlands Wirtschaft maßgeblich prägen. Es ist eine Frage, die sich zum Jahresende kurz vor der Weihnachtszeit viele Menschen stellen - entweder weil sie ein gutes Buch verschenken wollen, oder weil sie die hoffentlich ruhige Zeit zum Jahresausklang für sich selbst nutzen wollen.
In sehr persönlichen Empfehlungen stellen im Folgenden eine der bekanntesten deutschen Managerinnen, zwei CEOs großer Konzerne, eine Wirtschaftsweisin, eine Finanzvorständin und einer der prominentesten deutschen Familienunternehmer ihre Lieblingsbücher vor.
Die Empfehlung von Leonhard Birnbaum, dem CEO von Eon:" Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" ist ein Buch, das mich beeindruckt und bewegt hat. Der spätere Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn zeichnet damit inmitten des Kalten Krieges ein zutiefst menschliches Mahnmal für ein Leben in Freiheit. Man kann das Buch an einem Nachmittag lesen. Und man sollte es auch 60 Jahre später noch tun. Gerade jetzt in Zeiten einer wiedererstarkten geopolitischen Abgrenzung und in Teilen der Welt auch zunehmenden Verrohung.
Es geht wirklich nur um einen Tag: Vom Morgen, als Iwan Denissowitsch als Gefangener im Gulag aufwacht, bis zum Abend, als er wieder einschläft. Man erlebt jeden Moment und jeden Gedanken mit. Und so entsteht fast im Vorbeigehen das Bild eines unmenschlichen Systems - mit einer Intensität, wie sie ganz selten in der Literatur zu finden ist. Mein Lieblingssatz ist denn auch der letzte Satz des Buches - aber den verrate ich nicht und empfehle auch nicht, von hinten zu lesen).
Die Empfehlung von Sigrid Nikutta, Vorständin bei der Deutschen Bahn:Zufälle passieren. Es gibt diese Zufälle, die zu glücklichen Chancen werden. Unverhoffte Weichenstellungen, die uns neue Wege und Möglichkeiten eröffnen. Und das hat vor allem etwas mit uns, unserer Haltung zu tun!
Dr. Christian Busch forscht und lehrt an der New York University in Sachen Glück. Wobei das deutsche Wort Glück etwas zu passiv, zu eindimensional klingt für das, was Busch in " Connect the Dots" beschreibt. Ihm geht es um "Serendipität" gewissermaßen "intelligentes, aktives Glück". Es geht um die Schlüsselfrage, wie wir kreativ und positiv auf die Zufälle unseres Lebens reagieren. Und sie am Ende als Gewinn verbuchen können.
Damit hat er mein Überraschungsbuch des Jahres geschrieben - denn er schildert etwas, das mir persönlich immer wieder in meinem Leben begegnet ist. Wenn Dinge erstens anders, zweitens als geplant verlaufen, ist das zunächst für Herz und Hirn anstrengend - und mag vielleicht zunächst emotional enttäuschend sein. Oder eben auch nicht: Die größten Gelegenheiten, sich weiterzuentwickeln und Neues zu entdecken, sind Zufälle - so die These von Christian Busch. Dieser Ansatz, mit disruptiven Veränderungen positiv umzugehen ist aktueller denn je. Gerade die vergangenen Jahre haben uns allen gezeigt, wie schnell "das nicht Geglaubte" zu einer neuen Realität wird. Und frau oder man keine Managerin sein muss, um vor bislang nicht gekannten Herausforderungen zu stehen.
"Serendipität" ist ein Handwerkszeug für die persönliche Haltung in Zeiten wie diesen: Busch ermutigt, sich auf Zufälle einzulassen, und das ist nicht schwer. Er schildert zahlreiche berufliche Alltagssituationen, in denen wir aktiv mit buchstäblich offenen Augen unser Netzwerk knüpfen können. Oder, wie es Antonia Götsch, Chefredakteurin des Harvard Business Managers treffend beschrieben hat: "Es geht darum, wie wir unserem Glück auf die Sprünge helfen können."
Die Empfehlung von Martin Daum, CEO von Daimler Truck:Der Titel "Eine Frau erlebt die Polarnacht" ist denkbar unspektakulär - und passt genau deshalb ganz wunderbar. Denn die Autorin Christiane Ritter will sich und ihr Buch nicht wichtig nehmen. Aber es ist wichtig. Für mich jedenfalls.
Es geht um die wahre Geschichte einer Frau, die ihrem Ehemann für ein Jahr nach Spitzbergen folgt. Dort zu überwintern bedeutet für Christiane Ritter: Temperaturen von 30 Grad unter null und eine mehr als 100 Tage währende Polarnacht aushalten. Und zwar in einer winzigen Hütte, wo der Ofen mehr Ruß und Rauch abgibt als Wärme.
Wenn ihr Mann auf der Jagd ist, muss sie dort tagelang allein ausharren. Wenn sie länger keine Tiere erlegen, drohen ihnen die Vorräte auszugehen. Um nicht lebendig begraben zu werden, müssen sie die Hütte jeden Tag stundenlang von Schnee befreien. Wegen Sturm und Finsternis kann sie oft nicht spazieren gehen, sondern - wie sie schreibt - nur spazieren kriechen, ein paar Mal um die Hütte herum. Finger und Zehen drohen regelmäßig zu erfrieren. Und zu Weihnachten schenkt man sich einen Witz, mehr gibt es nicht.
All das könnte Christiane Ritter in einem Ton des Jammerns erzählen und man könnte ihr das nicht verdenken. Tut sie aber nicht. Es ist absolut bewundernswert, wie positiv sie die Dinge angeht und aus jeder Situation das Beste macht.
Man kann dieses Abenteuerbuch deshalb auch als Managementbuch lesen. Denn auch ich zum Beispiel stehe täglich vor der Frage, ob ich vor allem die Schwierigkeiten oder die Chancen sehen will. Und für mich ist klar: Selbst wenn das Glas nur zu zehn Prozent voll ist, dann ist das doch schon mal was. Dann konzentriere ich mich darauf und lege von da aus los. Ich lasse mich nicht lähmen von den 90 Prozent, die erstmal noch fehlen.
Es ist aber auch ein Achtsamkeitsbuch. Als es in den 1930er Jahren entstand, war dieser Begriff noch unbekannt. Aber schon damals beschreibt die Autorin die Entschleunigung, die sie erfährt, als sie sich mit dem Schiff langsam der Arktis nähert. Hektik und Oberflächlichkeit ihres gewohnten Alltags fallen von ihr ab. Auf Spitzbergen lebt sie völlig im Hier und Jetzt, mit voller Konzentration auf das wirklich Wesentliche. Dieser Kontrast wäre heute, mit unserem trubeligen modernen Lebensstil, sicher noch viel stärker.
"Eigentlich sollte ein Jahr in der Arktis für jedermann obligatorisch sein", so Christiane Ritter. "Dort würde jeder erfahren, was in der Welt wichtig ist und was nicht. Was zählt und worauf es im Leben ankommt. Jeder würde auf sein natürliches Maß reduziert werden." Wer wie ich dafür nicht gemacht ist, dem ist auch mit der Lektüre dieses Buchs schon sehr geholfen.
Die Empfehlung von Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen:Die zunehmend machtorientierte Weltordnung zwingt uns, moderne Autokratien und ihre Bevölkerungen besser zu verstehen. Einen wertvollen und lesenswerten Beitrag dazu leistet " Spin Dictators" von Sergei Guriev und Daniel Treisman. Die Autoren zeichnen das Bild der modernen Tyrannen und belegen es in ihrem Buch eindrucksvoll mit Forschungsergebnissen, kurzweilig und zugleich bedrückend unterlegt von Anekdoten aus aller Welt. Moderne Diktatoren und Autokraten bedienen sich zum Machterhalt zunehmend Propaganda, Desinformation und Manipulation der Bevölkerung anstatt (wie früher) brutaler Repression und Gewalt - das ist die zentrale These des Buchs.
Diese sogenannten "Spin Dictators" geben oft sogar vor, Demokraten zu sein, indem sie Wahlen, eine Opposition oder auch Dissidentengruppen zulassen - aber immer in einem Umfang, den sie unter Kontrolle haben und der ihre Macht nicht gefährdet. Statt etwa unabhängige Medien vollständig zu unterdrücken, nutzen "Spin Dictators" das ihnen zur Verfügung stehende Instrumentarium aus Fake News, willkürlichen Anklagen oder massiven Steuerforderungen gegen Regimegegner, um deren Einfluss gering zu halten. Das Buch regt zum Nachdenken darüber an, wie diese modernen Diktaturen unsere Demokratien bedrohen, indem sie sich nach außen - etwa durch weltweit sichtbare Sportereignisse - als attraktive Alternative inszenieren. Auch ihre Propaganda macht nicht an der Grenze halt, sondern beeinflusst über die sozialen Medien auch unsere öffentliche Debatte in ihrem Sinne.
Putins Regime in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wird im Buch als Paradebeispiel für eine Spin-Diktatur analysiert - zuletzt konnte man nun auch die Verletzlichkeit des Konstrukts beobachten: Die demokratische Ukraine vor der Haustür und den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung hat die Putin'sche Spin-Diktatur nicht ausgehalten. Ein spannendes Buch, das man dieser Tage gelesen haben sollte.
Die Empfehlung des Drogerieunternehmers Dirk Roßmann:"Es gibt etwas Wunderbares, das stets über das Wissen, die Intelligenz und selbst das Genie herausragt, und das ist das Unverständnis."Dieses kluge Zitat eines imaginären Schriftstellers ist dem ersten Kapitel von Hervé Le Telliers Roman " Die Anomalie"vorangestellt. Ein Buch, das mich in diesem Jahr gleichermaßen überrascht, begeistert und gefesselt hat.
Vorgeschlagen bekommen habe ich diesen Thriller von meinem Freund und Co-Autor Ralf Hoppe. Die ersten Seiten sind spannend geschrieben und doch ahnt man nicht, wohin all dies führen wird. Von Kapitel zu Kapitel lernt der Leser immer wieder neue Personen kennen, ihre Freude, ihr Leid, und bekommt einen kurzen Einblick in die jeweilige Persönlichkeit. Schockierend wird die Anomalie ab der Mitte des Buches, wo die Fäden der Figuren zusammengeführt werden: Sie alle eint ein gemeinsamer Flug. Kein gewöhnlicher Flug, das ist schnell klar, denn dasselbe Flugzeug landet gleich zweimal, die Menschen an Bord existieren in zweifacher Ausführung und werden sich schließlich auch noch begegnen.
Sie meinen sich zu kennen, aber was wäre, wenn Sie plötzlich sich selbst gegenüberstehen würden - keiner optischen Kopie, sondern einer komplett identischen Persönlichkeit? Würden Sie sich mögen oder verabscheuen? Könnten Sie Ihre eigenen Handlungsweisen nachvollziehen oder durch die Konfrontation mit dem eigenen Ich ganz anders reflektieren? "Die Anomalie" nimmt seine Leser mit auf ein phänomenales Gedankenexperiment, auf eine Reise ins absolut Unerwartbare, rasant bis schwindelerregend, wie ein erstklassiger Spielfilm. Zurecht wurde Hervé Le Tellier für diesen Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und stürmte innerhalb kürzester Zeit die französischen Bestsellerlisten. Ich kann versprechen: Hat der Sog dieses Buches einen erst einmal gepackt, wird man es nicht mehr weglegen können, bis die letzte Seite verschlungen ist.
Die Empfehlung von Ute Wolf, Finanzvorständin Evonik IndustriesIch lese viel, in den vergangenen zehn Jahren waren es bestimmt 150 Bücher. Und das sind nur die, die ich bis zum Schluss gelesen habe - wenn eine Geschichte mich nicht packt, steige ich aus. " Die Karte meiner Träume" aus dem Jahr 2009 ist der Debütroman von Reif Larsen, eine berührende Geschichte über den zwölfjährigen T.S. Spivet aus Montana in Nordwesten der USA. Seine Familie - eine Wissenschaftlerin, ein Cowboy, ein Möchtegern-Sternchen und ein Wunderkind - ist außergewöhnlich, muss jedoch eine große Tragödie verarbeiten. Das Buch erzählt aus Sicht des Jungen, wie er versucht, damit fertig zu werden. Das ist der Rahmen für eine Coming-of-Age Geschichte und ein Roadmovie, in der die Hauptfigur ihren Traum verfolgt und gegen eigenen Ängste und große Widerstände schließlich verwirklicht.
Die Sicht des Protagonisten auf die Welt ist überaus eigenwillig - voll Scham und Schmerz, aber auch voller Neugier und Wissensdrang - und in dieser Vielschichtigkeit überaus ansprechend. Sie zeigt Weisheit und Durchhaltevermögen, die man einem Zwölfjährigen nicht zutrauen würde. Neben der eigentlichen Handlung ist das Buch gespickt mit Karten, Randnotizen, Bildern und Diagrammen, mithilfe derer der Junge die Welt, seine Familie und die Natur zu verstehen versucht - von der Anatomie eines Insektes bis zum Bewegungsablauf beim Whisky trinken. Das offenbart zusätzliche Perspektiven - eine sehr schöne Idee. Ich empfehle das Buch Menschen, die einen Sinn für Außenseiter haben und skurrile Situationen mögen. Man braucht allerdings Zeit und Muße, um die Fülle an Informationen auf sich wirken zu lassen. Für langsames und genussvolles Lesen!
Weitere Empfehlungen:Falls Sie noch weitere Anregungen brauchen, kein Problem. Hier finden Sie die ausführliche Rezension über das gerade erst erschienene Buch "Totentanz" über das Inflationsjahr 1923. Hier lesen Sie, was in früheren Jahren mal Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser, Thyssenkrupp-Aufseherin Ursula Gather oder der Politiker Wolfgang Schäuble empfohlen haben. Und hier ist die exklusiv für manager magazin ermittelte Bestsellerliste der Wirtschaftsbücher.
Viel Spaß beim Lesen!