Immer das richtige Video zur richtigen Zeit: Der Empfehlungsalgorithmus, der Menschen genau das anzeigt, was sie weiterschauen lässt, gilt als das große Erfolgsgeheimnis der App TikTok. Die "New York Times" berichtete am Montag über ein internes Dokument, in dem das Geheimrezept erklärt sein soll - Überschrift "TikTok Algo 101". Marcus Bösch forscht und berät zu TikTok und ist Autor des Newsletters "Understanding TikTok".
ZEIT ONLINE: Herr Bösch, laut den enthüllten Dokumenten soll TikToks Algorithmus unter anderem darauf basieren, Likes, Kommentare, Bildunterschriften, Sounds und Hashtags zu analysieren. Ist das Geheimnis der App damit gelüftet?
Marcus Bösch: Nicht wirklich. Expert*innen haben schon lange vermutet, dass der Algorithmus mit diesen Parametern arbeitet und dadurch sehr schnell Vorlieben erkannt, um Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform zu halten. Die beschriebenen Elemente des Algorithmus sind also nicht wirklich überraschend. Wir wissen nun, welche einzelnen Faktoren wichtig sind. Allerdings richtet sich das enthüllte Dokument nicht an technikaffine Fachleute und zeigt auch nicht die genaue Ausgestaltung des Sets von Algorithmen. Wir wissen deshalb noch immer nicht das Entscheidende: wie ganz genau die einzelnen Faktoren gewichtet werden und was sonst noch so alles im Backend passiert.
ZEIT ONLINE: Also ist die Enthüllung eigentlich gar so spektakulär?
Bösch: Gerade dass es keine große Überraschungen bereithält, macht das Dokument interessant. Weil nun schwarz auf weiß steht: Der Empfehlungsalgorithmus ist nicht so singulär und spektakulär, wie wir uns das vielleicht erwartet haben. Er ist keine nie dagewesene Supertechnologie, sondern ähnelt den Empfehlungsmechanismen anderer Apps. hat damit einen Teil seiner Magie verloren.
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ZEIT ONLINE: Über den Algorithmus der TikTok-App wird immer wieder in der Öffentlichkeit spekuliert. Warum hat er so eine magische Anziehungskraft auf die Menschen?
Marcus Bösch: Der Futurist Arthur C. Clarke hat mal gesagt, dass technische avancierte Produkte von Magie nicht zu unterscheiden sind. Egal ob erstes iPhone oder eben TikTok-Algorithmus. Nutzer*innen können sich erst mal nicht erklären, wie so etwas überhaupt funktioniert. Das macht den Reiz aus. Vielleicht kann man den Algorithmus, oder besser die Algorithmen, bei TikTok auch mit dem Rezept von Cola vergleichen. Eigentlich besteht das Getränk nur aus Wasser, Zucker und ein bisschen Farbstoff, vielleicht kommt noch eine Prise Zimt mit dazu. Zahlreiche Nachahmer haben recht erfolgreich versucht, an den originalen Geschmack heranzukommen. Trotzdem gibt es immer noch nur eine Original-Coca-Cola, weil es ein riesiges Geheimnis um die angeblich einzige Niederschrift in einem Stahlsafe gibt und den Coca-Cola Santa Claus.
ZEIT ONLINE: Fallen wir bei TikTok also nur auf einen riesigen Marketingtrick herein?
Bösch: Das Marketing ist enorm wichtig. Der Algorithmus ist keine Magie, aber er funktioniert gut. Offenbar stimmen die Details, die Gewichtungen. Durch die Geheimniskrämerei entsteht eine Art Sogwirkung. Viele glauben, das Unternehmen ByteDance hätte hier einen neuen Zaubertrank gefunden. Inzwischen bietet das Unternehmen unter dem Namen BytePlus Teile seiner AI-Technologie auch anderen Unternehmen zum Kauf an, damit diese gegen Geld auch etwas von der Magie abbekommen können.
ZEIT ONLINE: Werden die aktuellen Enthüllungen Konsequenzen für TikTok haben?
Bösch: Es ist noch unklar, wie stark das aktuell geleakte Dokument wirklich in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden wird. Das Augenmerk richtet sich derzeit immer noch stark auf Facebook und auf Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugen. Ich denke, dass das interne Dokument von TikTok nicht so eine riesige Welle machen wird. Es wurden und werden nahezu wöchentlich ganz andere Dinge über die Plattform herausgefunden, zum Beispiel der mangelnde Umgang mit Extremismus, Antisemitismus und Misogynie auf TikTok.
ZEIT ONLINE: Könnte es trotzdem sein, dass Nutzerinnen und Nutzer sich jetzt anders verhalten?
Bösch: Menschen verhalten sich anders, wenn sie wissen, dass sie gerade beobachtet werden. Manche Nutzer*innen wischen vielleicht in Zukunft absichtlich ein aus ihrer Sicht interessantes Video weg, weil sie dem Algorithmus oder dem Unternehmen nicht alle ihre Vorlieben verraten möchten. Wenn sie die Plattform nicht mehr komplett unbedarft nutzen, ist das sicherlich keine schlechte Sache.