Raimund Gerwing, 62, ist Mitgründer und Inhaber des Fahrradgeschäftes "Drahtesel" in Münster. Der Chemiker verkaufte als Student die ersten Räder aus der Küche, zog 1988 in die Innenstadt und beschäftigt heute 25 Mitarbeiter.
Mein Tiefpunkt:"Als die Läden im März 2020 schließen mussten, durfte zumindest die Werkstatt geöffnet bleiben. Doch in den ersten Tagen war der Umsatz fast null. Viele Kunden stornierten ihre Bestellungen und Termine. Das hat uns mächtig auf die Stimmung geschlagen. Ich habe einen typischen Innenstadt-Laden, dessen Kunden spontan mit einem Plattfuß oder einer quietschenden Bremse vorbeikommen. Täglich fahren bis zu 22.000 Menschen mit dem Rad über die Münsteraner Promenade. Normalerweise haben wir 30 bis 40 Reparaturen pro Tag und durchschnittlich 150 Kunden im Laden - im ersten Lockdown konnte man sie an einer Hand abzählen. Und ich betreibe keinen Online-Shop.
Unser Lager platzte bald aus allen Nähten, ich wusste kaum noch, wohin mit den ganzen Rädern, weil kaum Ware abfloss. Und mit jedem Rad kam eine Rechnung. In dieser Phase habe ich Soforthilfe in Höhe von 25.000 Euro beantragt, um etwas mehr Puffer zu haben. Ein Teil der Verkaufscrew musste während des Lockdowns zudem in die Kurzarbeit, die Werkstatt war nicht betroffen.
Sehr geholfen hat mir dann, mich gleich ab dem ersten Tag des Lockdowns jeden Abend mit drei befreundeten Fahrradhändlern via Skype zu verabreden. Wir haben über Hygieneregeln gesprochen, über Kurzarbeit und Notfallpläne, falls uns das Geld ausgehen sollte. Die Gruppe hat mich motiviert, aktiv zu werden. Ich bemalte die Schaufenster mit "Wir sind da", wir lieferten Fahrräder auf einem Fahrradanhänger aus und warfen abends Bremsbeläge in Briefkästen. Ein kurz zuvor fertig gewordenes Online-Tool für Beratungstermine war eine große Hilfe."
Mein Höhepunkt:"Die Zeit nach dem ersten Lockdown übertraf alles, was ich in den letzten 36 Jahren erlebt habe. Bereits im Juli, dem umsatzstärksten Monat meiner ganzen Unternehmensgeschichte, konnte ich die beantragte Soforthilfe zurückzahlen.
Die Leute wollten an die frische Luft und den öffentlichen Verkehr vermeiden, das Wetter war über Wochen schön, viele suchten auch einen Urlaubsersatz - da konnte das Fahrrad seine Vorteile voll ausspielen. Die Nachfrage hat unsere Werkstatt schnell an ihre Grenzen gebracht. Wir wurden so überrannt, dass ich die Reißleine ziehen musste und eine Weile lang nur noch Stammkunden angenommen habe, um von den extrem langen Vorlaufzeiten von bis zu sechs Wochen herunterzukommen. Die Preise habe ich aber nicht erhöht."
Meine Zwischenbilanz:"Insgesamt haben wir im Corona-Jahr einen Umsatz zwischen vier und fünf Millionen Euro erzielt, das sind fast 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Ich konnte zwei neue Vollzeitstellen besetzen. Trotzdem sehe ich mich nicht als Profiteur der Pandemie. Natürlich waren die Verkäufe großartig. Aber privat möchte ich das Jahr 2020 nicht noch einmal erleben, mit 70-Stunden-Wochen, ohne Urlaub. Mitten in der Hochsaison im August mussten wir außerdem drei Wochen schließen. Vier Teammitglieder, mich eingeschlossen, waren an Corona erkrankt. Zum Glück geht es uns heute wieder gut. Covid-19 hat mich aber für vier Tage ins Krankenhaus gebracht und mir noch lange Probleme mit der Lunge beschert - da hätte ich lieber auf das Geld verzichtet.
Ich erlebe täglich, dass Corona meine Crew unglaublich zusammengeschweißt hat. Meinen Mitarbeitern habe ich die volle Corona-Prämie von 1500 Euro bezahlt.
Durch den Stillstand in China waren die Lieferketten lange Zeit unterbrochen. Wuhan ist eine der wichtigsten Zuliefererstädte unserer Branche. Gerade im vierten Quartal wurde es zunehmend schwerer, Ersatzteile und Zubehör zu beschaffen. Das wirkt sich bis heute aus. Jeder Händler versucht gerade, sich ein so dickes Ersatzteil-Polster wie möglich anzulegen. Eine Bremsflüssigkeit von einem Importeur aus Stuttgart ist beispielsweise schon seit Monaten nicht lieferbar. Nach persönlichen Anrufen bekomme ich kleine Portionen von 200 Milliliter zugeschickt, damit wir in unserer Werkstatt die Räder wieder flottbekommen. Diese Menge reicht aber gerade für zwei bis drei Wochen. Mittlerweile spielt für mich der Preis von Ersatzteilen fast keine Rolle mehr. Ich google den ganzen Tag und kaufe sogar Teile bei Wettbewerbern zu meinem eigentlichen Verkaufspreis."
Mein Ausblick:"Flächendeckend haben nahezu alle Lieferanten schon im August 2020 gemeldet, für das gesamte Jahr 2021 ausverkauft zu sein. Damit wird in der kommenden Saison kaum noch etwas nachbestellbar sein. Mancher Hersteller möchte bereits jetzt im Frühjahr die Vorbestellungen für das Jahr 2022 starten. Dazu kommt ein Mangel an Schiffscontainern in Asien, der für Lieferverzögerungen und Preisaufschläge sorgt. Die Frachtkosten haben sich teils verzehnfacht - das zeigt sich schon an steigenden Fahrradpreisen.
Ich möchte meinen Laden gerne erweitern. Unsere Branche wird sicherlich weiter wachsen, vor allem E-Bikes verkaufen sich gut. will bis 2025 erreichen, dass der Anteil des Radverkehrs von 40 auf 50 Prozent steigt. Wer jetzt als Händler keine Fehler macht, hat gute Jahre vor sich."
Der Zweirad-Industrie-Verband erwartet nach vorläufigen Schätzungen für 2020 ein Absatzplus der Branche von 20 Prozent