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So hilft eine Geflüchtete anderen vertriebenen Ukrainern in Köln

Yuliia Duliepa hatte bereits Tage vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ein schlechtes Gefühl: Sie flüchtete allein nach Deutschland. (Quelle: Mareike Thuilot)



Yuliia Duliepa ist gleich zu Kriegsbeginn aus Kiew geflohen, erst nach Polen, dann weiter nach Deutschland zu ihrer früheren Gastfamilie. Jetzt arbeitet sie beim Kölner Projekt "Mental Health for Ukraine". Wie geht es ihr in Deutschland?

Am 26. Februar floh Yuliia Duliepa vor dem russischen Angriffskrieg aus Kiew nach Deutschland. Die junge Studentin erlebte vier schlaflose, chaotische und angsterfüllte Tage in überfüllten Bussen, Bahnen und Bahnhöfen - bei Minusgraden. Und doch fühlt sie sich privilegiert. "Für mich war es leichter als für die meisten anderen, weil jemand in Deutschland auf mich gewartet hat."

Im polnischen Ort Lublin traf sie Luis Herter, ein vertrautes Gesicht in den Menschenmassen. Seit Yuliia sechs Jahre alt ist, besuchte sie jeden Sommer für zwei Monate eine deutsche Gastfamilie, Luis ist ihr Gastbruder. In seiner Heimatstadt Tübingen wurde sie auch jetzt nach der Flucht mit offenen Armen empfangen.

Yuliia ist heute 20 Jahre alt, eine selbstbewusste junge Frau. In Kiew studierte sie bis zuletzt deutsche und englische Übersetzung. An einem regnerischen Nachmittag, gut vier Wochen nach ihrer Flucht, sitzt sie in einem modernen Bürokomplex in der Kölner Innenstadt. Gemeinsam mit Benjamin Schwarz, dem Gründer der Plattform doQtor für Personalgesundheit, und den Gastgeschwistern Emily und Luis Herter möchte sie ihre Geschichte erzählen. Und auch davon, wie sie mit dem Projekt "Mental Health for Ukraine" ihren ukrainischen Landsleuten helfen möchte, die nicht so viel Unterstützung erfahren haben wie sie.

Yuliia: Allein nach Deutschland, statt hilflos im Bunker zu sitzen

Schon vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar hörte sie Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg. Sie habe ein "ungutes Bauchgefühl" gehabt - war damit anfangs jedoch allein. "Ich war in meinem Umfeld die einzige, die es ernst genommen hat", erzählt Yuliia. Bereits vier Tage vor Kriegsbeginn packte sie drei Koffer und Taschen und bereitete ihre Wohnung für eine Flucht vor. Sie hat gern alles im Griff.

Auch als die ersten Bomben im Raum Kiew fielen, konnte sie weder Familie noch Freunde überreden, mit ihr zu fliehen. Der Krieg sei trotz Sirenen und Bombenangriffen für die Menschen noch zu abstrakt gewesen, keiner habe wahrhaben wollen, dass es nicht in ein paar Tagen vorbei sei. Es sei schwierig, "sein komplettes Leben und sein Eigentum hinter sich zu lassen". Doch sie wollte möglichst schnell weg: "In der Ukraine sitze ich hilflos im Bunker, in Deutschland kann ich anderen helfen."

Also floh sie allein. Vom Hauptbahnhof aus erwischte sie einen der vielen überfüllten Züge in die ukrainische Stadt Lemberg. Dabei hatte sie großes Glück: Zwei Stunden nach Abfahrt fielen auf ein Gebäude in der Nähe des Hauptbahnhofs die ersten russischen Bomben.

Viertägige Flucht-Tortur: "Da sind Russen, es wird geschossen"

Für Luis, der Yuliia mit zwei Freunden und einem geliehenen VW-Bus in der polnischen Stadt Lublin in Empfang nahm, war ein Schlüsselmoment eine nüchterne Nachricht von ihr auf WhatsApp, während sie zum Hauptbahnhof in Kiew lief: "Da sind Russen, es wird geschossen." Das sei etwas ganz anderes, als Nachrichten in der Zeitung zu lesen.

Für Yuliia waren die vier Tage der Flucht eine Tortur, an Schlaf war nicht zu denken, zwischendurch musste sie stundenlang krank bei Minusgraden auf eine Möglichkeit warten, weiterzufahren. Sie sah Frauen, die vor Schwäche kollabierten. So schnell wie möglich wollte sie "nach Hause", zu ihrer Gastfamilie nach Tübingen. Hier hat sie Deutsch gelernt, war mit den Geschwistern in der Schule und im Sommerurlaub. Ihre drei Koffer haben es sogar mit nach Tübingen geschafft. "Mittlerweile kommen die meisten Flüchtenden nur noch mit einem Pass hier an", erzählt sie.

Trotz des Kraftaktes versuchte Yuliia schon während der Flucht, anderen zu helfen: "Ich habe allen meine Nummer gegeben", erzählt sie. Und dachte dabei immer auch an ihre eigene Familie, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Sicherheit war.

"Es war so ruhig in Tübingen, das Leben ging einfach weiter"

"Es war ein komisches Gefühl, als ich dann in Tübingen war. Es war so ruhig, das Leben ging einfach weiter, als wäre nichts passiert." Anfangs konnte sie kaum schlafen. Dann wollte sie helfen, wo es ging und hat sich als Übersetzerin angeboten. Eine weitere Familie aus Kiew brachte sie bei ihrer Gastfamilie unter.

Kriegstraumata, unsichere Zukunftsaussichten, Sorge um die Familie - die psychische Belastung durch den Krieg ist groß. Mittlerweile leitet Yuliia das Projekt "Mental Health for Ukraine", mit dem sie ukrainischen Geflüchteten direkt helfen kann. Ukrainerinnen und Ukrainer bekommen niedrigschwellig Hilfe, vor allem in Form mentaler Unterstützung.

Das Projekt haben Benjamin Schwarz und Marcus Diekmann, Gründer von Job Aid Ukraine, ins Leben gerufen. Über Yuliias Gastschwester Emily kannte er Yuliias Geschichte. Sie studiert in Duisburg und arbeitet als Praktikantin bei ihm. Er hatte so auch mitbekommen, wie sehr vielen Ukrainerinnen und Ukrainern Ansprechpersonen vor Ort fehlen, denen sie vertrauen können. "So kam eins zum anderen", erzählt er, seit einer Woche ist die Webseite online.

Hilfsprojekt in Köln: Erst die praktischen Fragen, dann die zur Seele

Im ersten Schritt buchen Geflüchtete einen Videocall mit Yuliia: Sie ist Ansprechpartnerin für alle Fragen und vermittelt, wenn notwendig, an Psychologen, Therapeuten und andere Hilfsangebote. Bei der Ankunft stünden erst mal ganz praktische Fragen im Fokus: "Wo schlafe ich, bin ich hier willkommen?" Erst im zweiten Schritt könne man sich um die seelische Gesundheit kümmern.

Doch die ukrainischen Menschen seien speziell, erzählt Yuliia Duliepa, über private Probleme spreche man in der Ukraine nur ungern. Daher bräuchten Geflüchtete jemanden mit Fingerspitzengefühl, der direkt frage, was los sei und den Weg zeige.

Ohne Yuliia sei das Projekt kaum denkbar, ist Schwarz überzeugt. Obwohl die Webseite mit Infos auf Deutsch und Ukrainisch erst so kurz online sei, hätten bereits viele russisch oder ukrainisch sprechende Experten ihre Hilfe angeboten.

Das Angebot sei außerdem für diejenigen, die Geflüchtete privat aufnehmen. "Auch für die Helfer ist es emotional hart, das alles mitzubekommen", glaubt Yuliia Duliepa. Schwarz erzählt von einer deutschen Familie, die sich gemeldet habe, weil das Baby der Geflüchteten seit Tagen ununterbrochen weine und alle überfordert seien.

"Auch wenn es nicht so läuft wie man will, kann es trotzdem irgendwie schön werden"

2020 hat Benjamin Schwarz das Kölner Start-up doQtor gegründet, mittlerweile unterstützen ihn zwölf Mitarbeiter. "Unternehmen haben Probleme mit der psychischen Belastung von Mitarbeitern", erklärt er die Gründungsidee. Mitarbeiter fielen plötzlich monatelang aus. Seine Lösung: ein anonymes, externes Angebot zur mentalen Unterstützung und, wenn nötig, Vermittlung von Therapieplätzen.

Und wie geht es Yuliia Duliepa nach vier Wochen in Deutschland, in denen sie zwischen Köln und Tübingen pendelt? "Ich bin präsent", antwortet sie lächelnd und meint damit, dass sie im Augenblick lebt und das Beste daraus macht. Ihre Familie und Freunde sind mittlerweile in ganz Europa verstreut, aber in Sicherheit. Ihr Studium pausiert mehr oder weniger.

Aber sie könne sogar etwas mitnehmen aus der Erfahrung der vergangenen Wochen: "Man kann das Leben nicht genau planen. Und auch wenn es nicht so läuft wie man will, kann es trotzdem irgendwie schön werden." Schlafen kann sie mittlerweile auch wieder.

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