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Jungenüberschuss: Stammhalter in der Überzahl

Es ist Pause für die vierte Klasse der Howhannes-Tumanjan-Schule in Gawar, einer Kleinstadt im Osten Armeniens. An den Wänden des Klassenzimmers hängen eine lachende gelbe Papiersonne und eine Wandzeitung, die einen Granatapfel beschreibt, das Symbol der Nation. Die Physiklehrerin Anousch Kolosjan muss erst einmal für Ruhe sorgen. 17 Jungen drängeln sich zu ihr nach vorne. Sie schaut den Schülern abwechselnd in die Augen und legt den ausgestreckten Zeigefinger an den Mund, um das Tuscheln zu beenden. "Seid ihr froh, dass ihr so viele Jungs seid?", fragt sie. Die Schüler rufen im Chor: "Ja!" Vier Mädchen sitzen still auf ihren Stühlen. Sie sind der Rest der Klasse. Helen ist eine von ihnen. Dass sie so viele männliche Mitschüler hat, stört sie nicht. "Es ist okay, wie es ist", sagt die 11-Jährige. "Wir Mädchen sind die besten Freundinnen und fühlen uns wie die Königinnen der Klasse."

17 Jungen, vier Mädchen - die Viertklässler in Gawar geben einen Vorgeschmack auf die demografische Zukunft Armeniens. Das Kaukasusland hat bei den Neugeburten einen der höchsten Jungenüberschüsse weltweit. Dem CIA World Factbook zufolge kamen hier im Jahr 2014 auf 100 neugeborene Mädchen 114 Jungen. Damit überholte Armenien in dieser Kategorie zum ersten Mal den bisherigen Spitzenreiter China. Nur im Zwergstaat Liechtenstein gibt es statistisch mehr männliche Babys. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Geschlechterverteilung bei der Geburt liegt weltweit bei etwa 107 Jungen zu 100 Mädchen. Die Gründe für dieses leichte Ungleichgewicht sind vielfältig und bei Forschern umstritten. Angenommen wird zum Beispiel, dass evolutionär bedingt mehr Jungen zur Welt kommen, weil Männer für mehr Nachwuchs sorgen können als Frauen - also für die Fortpflanzung im Vorteil sind. Doch wie erklärt sich die überproportionale Zahl an Jungen in der ehemaligen Sowjetrepublik Armenien?

Die Familien werden kleiner, Ultraschalluntersuchungen häufiger

Garik Hayrapetjan vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) in Armenien beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Seine Antwort ist: Mädchen werden häufig abgetrieben. Das Phänomen, das bislang vor allem in China und Indien bekannt ist, lässt sich ebenso im Südkaukasus beobachten. "Wir hatten anfangs Probleme, das Thema zu verstehen", sagt Hayrapetjan. Zwei Studien haben er und seine Mitarbeiter seit 2011 zu dem Thema durchgeführt. Die zeigen drei Gründe, warum Mädchen öfter abgetrieben werden: Die meisten armenischen Eltern bevorzugen einen Sohn, die Familien werden kleiner und Ultraschalluntersuchungen haben zugenommen.

Die Vaterfolge wird im christlichen Armenien laut Hayrapetjan oft als einzig legitime Fortführung der Familie betrachtet. In einer Studie der American University of Armenia über Verhütung und Abtreibung in den Provinzen des Landes von Anfang dieses Jahres wurden anonyme Gesprächsprotokolle mit Frauen veröffentlicht, die ihre Schwangerschaften abgebrochen haben. "Die Nachbarn sagen, ich brauche einen Jungen", wird eine 31-jährige Mutter von zwei Töchtern aus der Region Armavia zitiert, die zweimal abgetrieben hat. "Meine Schwägerin sagte: 'Lass es dir entfernen! Wozu brauchst du so viele Mädchen?'"

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