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Sleep-Out soll auf Obdachlosigkeit aufmerksam machen

Ein paar blaue Zelte stehen auf der Wiese vor dem beleuchteten Euro-Zeichen direkt vor der ehemaligen EZB-Zentrale. Ein kleiner Pavillon ist aufgebaut, es gibt Kuchen und Tee, Musik tönt aus einem Lautsprecher. Was ein bisschen aussieht wie eine Open-Air-Fete hat bei eisigen Temperaturen einen ernsten Hintergrund. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wollte die Gruppe Solidarity City Frankfurt auf die zunehmend schwierige Lage von Obdachlosen in der Stadt aufmerksam machen. Die Mahnwache ist die erste Aktion des Bündnisses in Frankfurt.


Fast 3000 Menschen in Frankfurt ohne festen Wohnsitz

Rund 2800 bis 3000 Menschen leben nach Angaben des Jugend- und Sozialamtes in Frankfurt ohne festen Wohnsitz. Wie hoch die Zahlen genau sind, lässt sich nur schätzen. Einige sind in Pensionen, Hotels und anderen temporären Unterkünften untergebracht, andere nutzen im Winter die B-Ebene der Hauptwache für Übernachtungen. Aber immer noch gibt es viele Menschen, die selbst bei Minusgraden keinen warmen Platz zum schlafen haben. Auf ihre Lage will Solidarity City Frankfurt aufmerksam machen. Gegründet wurde das Bündnis im Frühjahr 2017 im Zuge des 3. bundesweiten Recht auf Stadt-Forums. Unterstützer und Mitglieder der Gruppe sind unter Anderem Project Shelter, die Gruppe No Border FFM und Teachers on the Road, die sich alle für die Belange von Geflüchteten einsetzen. Auch die Stupoli (Studentische Poliklinik) ist dabei. Bei Stupoli bieten Studierende selbstorganisiert und von Fachärzten unterstützt kostenlose medizinische Beratung an.


Dabei sind die Hessen Nachzügler, schon länger gibt es Zusammenschlüsse in anderen europäischen Städten. Angelehnt ist das Konzept an die sogenannten „Sanctuary Cities" in den USA und Kanada, wo bereits seit rund 30 Jahren bestimmte Städte Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus eine „Zuflucht" (engl. sanctuary) bieten. Dort gibt es auch Absprachen mit den Ordnungsbehörden, wie Lothar, einer der Sprecher von Solidarity City Frankfurt erläutert: „Es gibt eine Politik des ‚Nichts fragen, nichts sagen'. Trotzdem ist die Kriminalität in diesen Städten nicht gestiegen."


Zelten als Aktion des zivilen Ungehorsams

In Frankfurt ist die Lage dagegen eine andere. Hier wurde erst im Sommer die Grünflächenverordnung verschärft, sodass das Lagern an öffentlichen Plätzen jetzt mit einem Bußgeld von 50 Euro geahndet werden kann. Genauer definiert ist der Begriff des Lagerns allerdings nicht.


„Wir wollen mit dieser Aktion des zivilen Ungehorsams bewusst eine Grenze überschreiten, um auf das Thema aufmerksam zu machen." - Aktivist von Solidarity City

Die Verschärfung sei einer der Gründe für die Protestaktion von Solidarity City gewesen, wie ein Mitglied der Gruppe erklärt. Der Aktivist, der lieber anonym bleiben möchte, wird die Nacht in einem der aufgestellten Zelte verbringen: „Wir wollen mit dieser Aktion des zivilen Ungehorsams bewusst eine Grenze überschreiten, um auf das Thema aufmerksam zu machen."


Rechnet er mit Reaktionen des Ordnungsamtes oder der Polizei? „Wir rechnen mit nichts, lassen es aber auf uns zukommen," so seine Antwort. Inzwischen haben sich noch einige weitere Menschen vor dem Pavillon eingefunden, es gibt jetzt vegane Suppen und Nudeln mit Hühnchen. Die Lebensmittel haben Mitglieder von Project Shelter gesammelt. Gezahlt wird auf freiwilliger Spendenbasis. Zwischen einem Baum und einer Laterne auf dem Willy-Brandt-Platz hängen Aktivisten ein Banner auf: „Whose city? Our city!" Es läuft Musik, Menschen tanzen, Passanten kommen vorbei und reihen sich ein.


Zweidrittel der Obdachlosen in Frankfurt stammen aus Osteuropa

Immer wieder gibt es auch Redebeiträge, eine junge Frau übersetzt. Nach Angaben der Stadt stammen rund Zweidrittel der Wohnsitzlosen in Frankfurt aus Osteuropa. Viele von ihnen sind Roma, die meisten sprechen Rumänisch, wie die junge Frau erklärt. Einer der Anwesenden erzählt seine Geschichte. Er habe zwei Jahre in Deutschland gearbeitet und bei einem Arbeitsunfall ein Bein verloren. Jetzt sitze er im Rollstuhl und lebe auf der Straße. Das Sozialamt habe ihm nur während seiner Genesung eine Unterkunft gewährt, Geld bekomme er nicht. Häufig werde er von der Polizei kontrolliert.


Ähnlich geht es laut eigener Aussage der Mutter von drei Kindern, die ebenfalls von ihren Erlebnissen berichtet. Sie ist aufgewühlt, immer wieder bricht ihre Stimme ab: „Wir sind Zigeuner. Ich erzähle das den Menschen immer direkt. Eine Zeit lang musste ich mit meinen drei Kindern auf der Straße schlafen. Als ich wieder Arbeit hatte, habe ich Probleme bekommen, weil ich Zigeunerin bin. Aber mein Chef hat mir geholfen."

In Rumänien werden Roma oft ausgegrenzt und diskriminiert, aufgrund von Analphabetismus und Obdachlosigkeit führen viele ein Leben ohne Perspektiven. Eine Studie von UNICEF aus dem Jahr 2005 hat eine Analphabetenquote von über 25% unter Roma-Kindern festgestellt, zehnmal so hoch wie im Rest der Bevölkerung.


Es sind Erlebnisse und Menschen wie diese, auf die Solidarity City aufmerksam machen will. Ob Roma, Geflüchtet oder Menschen, die durch das soziale Netz gefallen sind: Sie alle werden in urbanen Räumen zunehmend an den Rand gedrängt, beklagt die Gruppe. Dabei sieht das Bündnis einen erheblichen Teil der Verantwortung bei den Städten, auch wenn diese nicht dieselben Freiheiten haben wie Städte in den USA und Kanada: „Städte können Stellung beziehen. Wir werden die Bürgermeisterwahlen im kommenden Jahr genau beobachten und die Kandidaten in die Pflicht nehmen."

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