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Feature

„Zoo ohne Tiere“ – Die Geschichte der Geisterspiele

Von Marcel Braune
1980 stieg in London die erste Partie auf großer Bühne, bei der Zuschauer nicht ins Stadion durften. Auch 19 deutsche Teams haben diese Erfahrung bereits gemacht. Spieler und Trainer verraten, was sie so erlebt haben ...
Wie ein geschichts trächtiger Tag fühlte sich der 1. Oktober 1980 im Londoner Stadtteil Newham nicht an. Ein eiskalter Wind fegte durch die fast menschenleere Green Street. Dennoch geschah Historisches!
Im Upton Park wurde das Spiel zwischen West Ham United und Castilla, der zweiten Mannschaft von Real Madrid, im Europapokal der Pokalsieger angepfiffen. Es war das erste offizielle Pflichtspiel auf großer europäischer Fußballbühne, bei dem keine Zuschauer ins Stadion durften.
Die Mutter aller Geisterspiele!
Alan Devonshire (64), absolvierte neun Länderspiele für England, stand damals für West Ham auf dem Platz. Er erinnert sich: "Wir waren richtig sauer auf unsere Fans. Die hatten sich im Hinspiel in Madrid danebenbenommen und nach dem Spiel randaliert. Deshalb durfte keiner ins Stadion. Uns war gar nicht bewusst, wie historisch das ist. Damals hat sich in den Medien auch kaum einer dafür interessiert."
Die Uefa hatte West Ham nach den Krawallen mit einer bis dahin ungewöhnlichen Strafe belegt, sperrte konsequent alle Fans aus. Ein Versuch der Engländer, das Spiel auf neutralem Boden in Paris mit Zuschauern auszutragen, scheiterte. So sahen nur 261 Menschen, bestehend aus Vereinsmitarbeitern und Journalisten, einen spektakulären 5:1-Sieg der Londoner nach Verlängerung und den Einzug in die zweite Runde.
Devonshire: "Die Torschützen sind vor Freude durch das Stadion gerannt, als wäre es ausverkauft. Das war witzig. Wir mussten ewig auf die Bälle warten, bis sie die Balljungen von der Tribüne geholt hatten."
Devonshire über die erdrückende Stille: "Man konnte selbst hören, wenn sich die Trainer auf der Bank unterhalten haben. Und wenn der Trainer aufs Feld geschrien hat, habe ich mich richtig erschrocken. Normalerweise hört man das ja nicht. Das war eine sehr merkwürdige Erfahrung."
Die Geschichte der Geisterspiele! Von seltsamen Erlebnissen berichtet auch Wolfgang Wolf (62), heute Trainer bei Regionalligist Lok Leipzig. Am 24. November 2003 hatte der damalige Nürnberg-Coach im Zweitliga-Spiel in Aachen eine Metallkugel aus dem Zuschauerbereich an den Kopf bekommen und war benommen zusammengebrochen. Das Spiel wurde beim Stand von 1:0 abgebrochen und wiederholt. Der DFB schloss damals als Strafe sämtliche Zuschauer aus. Eine in Deutschland bis dahin einmalige Entscheidung! Am 26. Januar 2004 stieg das erste Geisterspiel im deutschen Profi-Fußball.
Wolf: "Die Entscheidung wurde eigentlich von allen Seiten kritisiert. Auch ich hätte lieber die heißblütigen Aachener Fans im Stadion gehabt. Wir hatten durch die Winterpause lange Zeit, uns darauf vorzubereiten, haben Testspiele in unserem leeren Stadion gemacht. So ein Spiel fühlt sich an, als würde es keinen interessieren." Aachen gewann trotz fehlender Heimfans 3:2.
Im Radio kommentierte Reporter-Legende Günter Koch (78) 90 Minuten am Stück und prägte den Spruch: "Hören Sie diese Stille?" Für die Reportage, bei der er während des Spiels durch das leere Stadion wanderte, wurde er mit einem Medienpreis ausgezeichnet.
Dieses Geisterspiel leitete Schiedsrichter Lutz Wagner (56):"Ich habe als Vorbereitung das Kreisligaspiel Fechenheim gegen Niederursel gepfiffen. Da gab es auch keine Zuschauer." Laut Wagner schaukeln sich durch fehlende Emotionen weniger Situationen hoch, dadurch gibt es weniger Arbeit für die Schiris. Dennoch sagt er: "Es ist einfach eine komische Situation, wenn Szenen nicht beklatscht werden oder gepfiffen wird. Da ist es eigentlich fast schöner, von den Fans beschimpft zu werden, als wenn gar keiner da ist."
Das erste Tor der deutschen Geisterspiel-Geschichte schoss Marek Mintal (42) für Nürnberg. Der Slowake: "Ich bin reflexartig zu dem Auswärtsblock gerannt, wollte mit den Fans jubeln. Aber da stand niemand." Mintal ist zusammen mit Adam Szalai (32) Deutschlands Geisterspiel-Rekordtorschütze. Beide trafen je zweimal. Mintal, Spitzname Tor-Phantom, lacht: "Zwei Spiele, zwei Tore. Vielleicht hätte ich öfter vor leeren Rängen spielen sollen! Aber ernsthaft: Der Jubel ohne Zuschauer ist deutlich leiser und kürzer. Es ist einem fast unangenehm zu jubeln, weil man ja alles versteht. Wenn man sich freut, schreit man ja gern mal ein wenig Blödsinn."
Mintals zweiter Geisterspiel-Treffer gelang ihm als Rostock-Stürmer im Dezember 2011 beim 2:2 gegen Dresden in der 2. Liga. Dieses Spiel musste immer wieder wegen Fan-Entgleisungen unterbrochen werden. Dabei waren diese gar nicht im Stadion. Wolfgang Wolf, damals Rostock-Trainer, erklärt: "Vor dem Stadion standen Tausende Fans.
Die haben Feuerwerkskörper von außen auf den Platz geschossen. Das war Wahnsinn."
Die meisten Profis sind sich einig, dass für die Heimmannschaft bei einem Geisterspiel ein Nachteil entsteht, da sie von ihren Fans nicht zu größeren Leistungen gepusht werden. Bei bisher 14 Geisterspielen im Profibereich mit deutscher Beteiligung gab es nur vier Heimsiege!
Für Klaus Augenthaler (62) kam das Geisterspiel in der Champions League im November 2004 mit Leverkusen bei der AS Rom sehr gelegen. Bayer war damit das erste Bundesliga-Team, das in einem leeren Stadion ran musste. Augenthaler: "In einem vollen Römer Olympiastadion hätten wir sicher Probleme bekommen. AS Rom war ohne Fans verunsichert, und wir haben ein 1:1 holen können, wurden auch dadurch Gruppensieger."
Ein Geisterspiel-Fan ist der Weltmeister von 1990 deshalb nicht: "Im Fernsehen hört man ja alles, was man als Trainer so brüllt. Ich musste mich zurückhalten, habe stattdessen lieber die Polizisten im Stadion gezählt. Mir war auch etwas langweilig."