Ich bin natürlich vorbereitet. Ich habe Videos gesehen, alle Internetartikel zum Thema gelesen, Äpfel gekauft und die Kleidung vom Vortag angezogen. Mit Fahrrad und S-Bahn bin ich nach Bernau bei Berlin gefahren, in den Ortsteil Ladeburg, ein eingemeindetes Dorf mit vielleicht 3.000 Einwohnern. Und es ist schön hier. Hier kann man das machen, was ich unbedingt machen will. Ich will auf einer Kuh reiten, auf Betty.
Lucy erwartet mich: 19 Jahre alt, im dritten Jahr ihrer Ausbildung zur Tierpflegerin, gebürtige Brandenburgerin, und mit einem Grinsen gesegnet, das mich sofort als Stadtkind entlarvt bin. Nagut.
Und dann stehe ich plötzlich vor ihr, vor einer schwarzweiß gefleckten Kuh, umringt von zwei Pferden, zwei Kälbern, zwei Eseln und drei Schafen, Bettys Herde.
Lucy & Lydia: „Also, jeder hat so seine Rangordnung, die Molly hier ist die Ranghöchste, sie ist die Chefin hier, und sie sagt, wer wie viel Futter bekommt.“ – Molly ist ein Pferd. Ein großes, dunkelbraunes Pferd, das mir sehr nahe kommt. – „Molly, du entscheidest, wer von den drei Äpfeln was abbekommt, die ich mitgebracht habe? – „Genau.“
Zwischen
einem Monat und 15 Jahre alt sind die Tiere, die Lucys Familie auf
einem gepachteten Grundstück am Dorfrand hält. Betty ist 7. Ich
habe keine Angst, aber Respekt vor der Kuh. Doch je näher ich Betty
komme, desto absurder erscheint mir die Idee, auf ihr reiten zu
wollen.
Betty.
Ist.
Riesig.
Lucy & Lydia: „Betty ist im Normalfall als Holstein Schwarzbunt, […] ist sie ja theoretisch’n bisschen kleiner, so dreißig Zentimeter kleiner, aber weil sie ein Zwillingskalb war und noch nicht trächtig geworden ist, ist sie jetzt eben relativ groß geworden. Und sie wächst auch immer weiter, also, ja.“ – „Betty, du bist schon voll groß!“ – „1,80 isse jetze.“
Lucy reitet auf Pferden, seitdem sie vier ist. Auf dem Rücken einer Kuh saß sie das erste Mal mit elf. Das sei normal auf dem Land. Kinder von Viehbauern probieren das irgendwann alle mal aus, auch, weil nicht immer das Geld für Pferde da sei…
Lucy
ist jeden Tag draußen bei Betty, solange, bis die Sonne untergeht,
außer in den Wochen, in denen sie in die Berufsschule muss, dann
sieht Lucy die Tiere nur an zwei, drei Tagen.
Lucy: „Ich putze Betty jetzt, damit sie keine Druckstellen beim Sattel hat, oder bekommt.“
Betty mag das, wenn Lucy mit der Bürste über ihr Fell fährt. Nur die Fliegen nerven sie. Die Kuh schüttelt sich, wirft den Schwanz und behält mich im Blick…
Lucy & Lydia: „Ah, du hast jetzt ein Geschirr für Betty.“ – „Ein Halfter, nennt man das.“ – „Ein Halfter. Ist das spezialgefertigt oder kannst Du einfach ein Pferdehalfter nehmen?“ – „Pferdehalfter, ja. Aber weil Rinder’nen relativ kurzen Kopf haben, aber einen breiten, muss man gucken, welche passen.“ – Gamaschen an jedes der vier Beine, ein Pad aus Wolle unter den Ledersattel… – „Der Westersattel wurde von Daniel Beuse angepasst, vor zwei Jahren und…“ – „Angepasst heißt, die Kuh wird vermessen.“ – „Richtig, nach ihren Körpermaßen, und nach meinen Körpermaßen.“
Ein Bauchgurt verhindert das Verrutschen des Sattels, ebenso wie Schweifriemen und Vorderzeug. Lucy erklärt mir jeden ihrer Handgriffe. Und mit dem Anlegen der Zügel ist Betty endlich fertig für den Reitplatz. Sie nimmt es gelassen, hebt den Schweif und strullt nochmal. Mich wundert gar nichts mehr.
Lucy: „Ich
frag natürlich schon, wie sie Lust hat. […] Aber Rinder sind
so’ne, die lassen sich nichts sagen, die muss man überzeugen, und
herzhaft sein, […] also, nicht wie bei Pferde, wo man sagt: komm’
wir gehen jetze. Rinder muss man fragen.“
Lucy und Betty sind ein Team, seitdem Betty vor knapp sieben Jahren aus schwierigen Verhältnissen zu ihr gekommen ist und aufgepäppelt werden musste. Sie soll „Färse“ bleiben, also: eine Kuh ohne Kalb und ohne Milch im Euter. Sie soll einfach nur leben. Und ab und zu rückwärts Slalom laufen. Wenn sie will.
Lucy & Lydia: (Betty muht) „War Betty das gerade?“ – „Ja!“ – „Sie macht gar nicht den Mund auf dabei.“ – „Nee, sie ist eher so’ne Leise.“ – „Ja, okay, Betty.“ (Betty muht erneut)
Lucy nimmt nicht Anlauf, um auf den Kuhrücken zu springen, sondern sie steigt auf einen Stuhl und lässt sich vorsichtig in den knarzenden Sattel gleiten. Sie will Betty schonen. 70, 80 kg darf die Kuh tragen, mehr nicht. Und: Dann reiten sie. Erst langsam, schließlich im Trab. Betty beherrscht sogar Galopp. Als sich das gefleckte Rind geduldig rückwärts zwischen Hütchen entlang schlängelt, bin ich fertig mit den Nerven. Es ist „sowas von“ klar: Ich werde heute keine Kuh reiten.
Lucy: „Also, wenn ich stoppe, mache ich mein Gewicht nach hinten, und wenn ich rückwärts gehen möchte, dann sage ich ihr, dass sie jetzt rückwärts gehen soll, also, die Zügel muss man sozusagen nach hinten bewegen, und dazu Laute noch. Und wenn sie stehen bleiben soll: brrrrr.“
Lucy und ihre Reitkuh trainieren, weil’s ihnen Spaß macht, aber auch für Veranstaltungen, zum Beispiel für das nächste Kuhturnier, das Lucy und ihre Familie 2015 erstmals veranstaltet haben. Dabei sind alle Tier willkommen, die was können. Einmal soll sogar ein Meerschweinchen teilgenommen haben…
Lucy: „Und das ganze Geld, was bei uns reinkommt, wird alles zugunsten der Kindernachsorgeklinik Berlin-Brandenburg gespendet, direkt eins zu eins auf’n Konto rauf, und die Kinder werden umsonst mit dem Omnibus zu uns gefahren und dürfen die Veranstaltung miterleben, Reiten, Hüpfburg, alles was das Kinderherz begehrt.“
Lucy ist sichtlich gerührt, als sie davon erzählt. Im Hintergrund meldet sich eines der Kälber, Mia oder Frieda, ich kann sie nicht auseinanderhalten. Eines der beiden soll auch mal Reitkuh werden. In ein paar Jahren vielleicht. Ich krame verlegen nach den Äpfeln, mit denen ich mich bei Betty einschleimen wollte – und begnüge mich damit, bei der Fütterung zuzugucken.
Info: Ihren nächsten öffentlichen Auftritt haben Lucy und Betty im Rahmen der Internationalen Grünen Woche Berlin, 18. bis 27. Jan. 2019. Das erwähnte Kuhturnier findet am 20. Juli 2019 statt. (Internetseite:
https://kuhturnier.de/)
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