9.30 Uhr, Sonntag morgens, Abfahrt in Kabatasch in der Nähe des Dolmabahce Palastes. Kaum hat die Fähre abgelegt, rennen junge Männer, ein Tablett geschickt balancierend, durch die Reihen: "Cay ister var mi?" Möchte jemand Tee? Die beliebtesten Plätze sind auf den Bänken an der Reling, man lässt die Beine baumeln und kann den frischen Fahrtwind genießen.
Ein Pärchen turtelt, dezent allerdings: Sie küsst ihren Finger und drückt ihn auf seine Lippen. Sie schaut kokett, er ist verlegen und blickt auf den Boden. Ein anderes Paar ist weniger scheu. In ihrem Gothic-Look sitzen sie eng umschlungen, die Welt um sie herum scheinbar vergessen, und küssen sich innig. Die Luft ist kühl, dennoch ist nicht eindeutig, ob es die Luft ist, die die Gänsehaut auf seinen freien Armen verursacht.
Die Möwen folgen dem Schiff und stürzen sich wild durcheinander schreiend auf die kleinen Brocken Simit, Sesamkringel, die ihnen die Fahrgäste zuwerfen. Wer geschickt ist, lässt das Stückchen nicht erst ins kalte Salzwasser des Bosporus plumpsen, sondern fängt es geschickt in der Luft auf. Der Applaus der Fahrgäste ist dem Meister sicher. Der Blick der Möwen aber verrät: Kleinigkeit.
Schönheit in der Verbannung
"Luftige Pinien, milde Luft, von den Düften des Laudanum, der Melissen und würziger Kräuter durchschwängert, ein liebliches Paradies reicher griechischer Familien, die hier die schönen Frühlings- und Herbsttage verbrachten." So beschreibt Anfang des 19. Jahrhunderts der österreichische Orientalist Josef Freiherr von Hammer-Purgstall die Inseln im Marmarameer, zu denen die Fähre etwa anderthalb Stunden unterwegs ist.
Istanbul war damals noch Konstantinopel, die Hauptstadt des osmanischen Reiches. Es war die Zeit, als vor allem Griechen, Juden und Armenier von Pera, dem alten europäischen Teil Istanbuls, in dem die Europäer ihre Domizile und Vertretungen hatten, die Inseln als natürliche Erholungslandschaften entdeckten. Sie wurden zum Feriensitz der Wesire und Hofärzte, der Diplomaten und Fabrikanten. Man richtete regelmäßige Fährverbindungen ein, die im viktorianischen Stil errichteten Villen sind bis heute zu bewundern.
Vor dieser Zeit der Neubesiedlung gab es nur Mönche und Fischer auf den Prinzeninseln – oder lästig gewordene Thronanwärter, denen ein Erholungsaufenthalt aufgezwungen wurde. Dauerhaft. Daher der Name. Allerdings, so die historische Kunde, hatten die Prinzen nichts von der Schönheit ihres Exils: Sie wurden geblendet. Im Türkischen heißt das Archipel "Kizil Adalar", rote Inseln, nach den Kupferminen. Istanbuler nennen sie einfach nur "Adalar", die Inseln. Neun gibt es insgesamt, fünf sind bewohnt. Rund 20.000 Einwohner leben hier. Im Sommer allerdings, wenn die Istanbulular, wie im Türkischen die Istanbuler heißen, der Hitze, dem Smog und dem Stress der 15-Millionen Metropole entfliehen, können es bis zu 120.000 werden. Viele haben hier ihr Sommerhäuschen, vor allem auf der Hauptinsel Büyük Ada, der Großen Insel.
Man sagt am Bosporus: Wer reich ist, setzt mit seiner eigenen Yacht hinüber zu dem Eiland. Wer bedeutend ist, der hat einen Sommersitz dort. Für fünf Millionen Dollar hat sich auch Vural Öger dort einen Traum verwirklicht. Onur, 32-jähriger IT-Spezialist, sagt: "Ich besuche meine Großeltern einmal im Monat. Ich brauche diese Ruhe und Frische. Istanbul ist meine Stadt, aber manchmal ist sie mir zu hektisch. Gut, dass wir die Inseln haben." Und das vielleicht Schönste der Inseln: Es gibt keine Autos, nur Kutschen. Atatürk selbst soll verfügt haben, dass hier niemals Autos fahren dürfen. Ein Glück für die Kutscher.
Anstellen bitte
Diese stehen bereit am Fähranleger. Gleich neben dem freien Platz, auf dem auch Atatürk vom Sockel grüßt: "Ne mutlu Türküm diyene" steht dort wie so häufig auf seinen Denkmälern – "Glücklich, wer sich Türke nennen kann." Ismail Güler versucht zu vermitteln: Von einem Turm ruft er die Nummern der Kutschen, damit sich keiner der 226 Kutscher vordrängelt. "Aber es passiert natürlich immer wieder. Ich kann meine Augen nicht überall haben", klagt Ismail. Wenn eine Fähre ankommt, noch dazu an einem Sonntag wie heute, ergießt sich der Strom der Besucher über den Platz. Dann nützt auch der Kontrollturm nichts mehr, dann koordiniert Ismail vor Ort. Vor ein paar Jahren hat man den Zugang eingezäunt, so dass die Besucher Schlange stehen müssen. Das hat die Sache etwas erleichtert.
Mehmet nimmt es gelassen. Mit seinen 76 Jahren kann er sich das auch leisten. Er kennt alle Tricks – und die Insel in- und auswendig. Er ist hier geboren, hat zehn Kinder groß gezogen: "Sechs Jungen, vier Mädchen. Sie sind alle gesund und verheiratet. Maschallah!" Läuft das Geschäft gut? "Na ja," sagt Mehmet, "im Winter und Frühjahr ist es manchmal schwierig. Aber im Sommer läuft es gut, da habe ich manchmal vier oder fünf Fahrten am Tag." Dann wird es voll auf der Insel, und "die Touristen kommen aus der ganzen Welt, aus Russland, Mittelarabien, Europa und Deutschland".
Apropos Deutschland: "Mein Bruder arbeitet in Berlin. Das ist nicht so weit von hier entfernt, oder?" Spricht er Englisch mit den anderen Touristen? "Englisch? Kein Wort. Ich kann ja nicht mal richtig lesen und schreiben." Nach drei Jahren Volksschule ist er gegangen. Kutschen steuern und die Launen und Tücken der Pferde kennen lernen, das lernt man schließlich nicht in der Schule. "Brrr – yavasch, yavasch dostumlarim – langsam, langsam, meine Lieben."
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