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Was Estland beim E-Voting anders macht als die Schweiz | NZZ

Der Bundesrat will das elektronische Abstimmen für alle Bürger ermöglichen. Was in der Schweiz auf Widerstand stösst, ist in Estland seit über einem Jahrzehnt Praxis. Sicherheitsbedenken gibt es allerdings auch dort.

Das Abstimmen übers Internet erhitzt in der Schweiz die Gemüter. Nachdem es seit 2004 im Rahmen von Versuchen in verschiedenen Kantonen hauptsächlich für Auslandschweizer zur Anwendung gekommen ist, will der Bundesrat einen Schritt weitergehen und E-Voting mittelfristig als dritten Stimmkanal (neben der Stimmabgabe an der Urne und derjenigen per Post) sämtlichen Stimmbürgern zugänglich machen. Dagegen gibt es Widerstand: Eine Gruppe von Politikern und Netzaktivisten will eine Volksinitiative lancieren, mit der E-Voting faktisch verunmöglicht würde. Sie halten das elektronische Abstimmen für unsicher und sehen das Vertrauen in die Demokratie gefährdet.

Breite Digitalisierungsoffensive

Was in der Schweiz für Spannungen sorgt, ist in einem kleinen Land weiter nördlich seit mehr als zehn Jahren Realität: In Estland steht der elektronische Stimmkanal seit 2005 allen Bürgern offen. Dabei haben sich die beiden Länder etwa zur gleichen Zeit des Themas angenommen, nämlich um die Jahrtausendwende. Warum also machte Estland so viel schneller vorwärts?

Robert Krimmer, Professor für E-Governance an der Tallinn University of Technology, sieht dafür zwei Gründe. Erstens sei der baltische Staat viel stärker zentralisiert. "Entscheidungen können dadurch relativ einfach und schnell getroffen werden." Zweitens war E-Voting in Estland von Beginn weg Teil einer breiteren E-Government-Strategie. Unter dem Banner "e-Estonia" hat die Regierung nach der Jahrtausendwende die Digitalisierung der staatlichen Verwaltung vorangetrieben. Heute können die Bürger am Bildschirm die Steuererklärung ausfüllen, Verträge abschliessen oder eine Baubewilligung einholen. Dazu verwenden sie eine Identitätskarte mit eingebautem Chip, die jeder Einwohner erhält und die der persönlichen Identifikation dient. "E-Voting war eine naheliegende zusätzliche Anwendungsmöglichkeit der Identitätskarte", sagt Krimmer.

Beteiligung kaum erhöht

Beim ersten Einsatz des Systems bei den Lokalwahlen 2005 nutzten weniger als zwei Prozent der Stimmenden den elektronischen Stimmkanal. Inzwischen ist der Anteil auf etwas über 30 Prozent gestiegen. Interessant ist dabei, wie sich die Zusammensetzung der Internetwähler verändert hat. Waren es anfangs überwiegend männliche Stimmbürger mittleren Alters, gleicht die Struktur heute jener der Gesamtheit des Stimmvolks.

Wer allerdings glaubte, E-Voting würde die Stimmbeteiligung erhöhen, wurde enttäuscht. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten keinen signifikanten Anstieg der Beteiligung durch die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe feststellen. Eine Analyse aus dem Jahr 2016 erklärte dies damit, dass diejenigen Bürger, die sich am seltensten beteiligen, auch die mit der geringsten digitalen Kompetenz sind - und damit durch E-Voting kaum mobilisiert werden. Die elektronische Stimmabgabe scheint in erster Linie andere Stimmkanäle ersetzt zu haben. Robert Krimmer erstaunt dies nicht. "Die Bürger gehen nicht deshalb wählen, weil ihnen ein bestimmter Kanal zur Verfügung steht. Dafür sind andere Faktoren wichtiger, vor allem der politische Wettbewerb der Kandidaten und Parteien." Für ihn liegen die Vorteile von E-Voting darin, dass man bei der Stimmabgabe zeitlich und örtlich flexibel ist und seine Stimme jederzeit ändern kann. Weil der elektronische Kanal die Zugänglichkeit der Wahl verbessere, könne er mittelfristig immerhin dazu beitragen, das Niveau der Wahlbeteiligung zu halten, glaubt der Wissenschafter.

Schwachstellen bei Sicherheit

Auch wenn die technologieaffinen Esten E-Voting rege nutzen, gibt es wie in der Schweiz in dem baltischen Land Bedenken bezüglich der Sicherheit. Sven Heiberg von der Firma Cybernetica, die das estnische E-Voting-System entwickelt hat, sagt, es habe bisher keinen erfolgreichen Angriff gegeben. Und auch wenn Manipulationen nie gänzlich ausgeschlossen werden könnten, könnten sie zumindest erkannt werden.

Anderer Meinung ist Jason Kitcat. Der Brite ist Teil einer internationalen Gruppe von Cybersicherheitsspezialisten, die vor vier Jahren eine Untersuchung des estnischen E-Voting-Systems durchführte. Sie kam zu dem Schluss, dass dieses an mehreren Stellen Sicherheitslücken aufweise. Zum einen zeigten die Beobachter, dass Hacker Computer von einzelnen Wählern angreifen und ihre Stimmen verändern könnten, auch wenn grossflächige Manipulationen damit kaum möglich wären, ohne dass man aufflöge. Schwieriger, aber potenziell schädlicher, sind Attacken auf den zentralen Server. Zwar sind die Computer, welche die Stimmen entschlüsseln und auszählen, nicht am Internet angehängt. Die verschlüsselten Stimmen müssen aber auf sie übertragen werden, was laut Kitcat Möglichkeiten für Manipulationen eröffnet.

Eine weitere Schwachstelle ist laut den Beobachtern der Mensch: Das estnische Gesetz sieht strenge Sicherheitsvorkehrungen vor, um Manipulationen auszuschliessen. Nicht immer werden diese allerdings eingehalten. So beobachteten Kitcat und seine Kollegen bei ihrem Besuch bei der Wahlbehörde, wie ein Angestellter seinen persönlichen Laptop nutzte, um die offizielle Wahlsoftware zu signieren.

Auf Schwachstellen wie diese hätten die internationalen Experten zu Recht hingewiesen, räumt Sven Heiberg ein. Die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen werde inzwischen genauer kontrolliert. Dem Fazit, dass das System grundsätzlich unsicher sei, widerspricht er jedoch. Die Beobachter hätten nicht beweisen können, dass das zentrale System gehackt werden könnte. "Wenn ich den Bericht der Gruppe lese, habe ich das Gefühl, dass sie etwas zu beflissen waren, etwas zu finden, was nach einer Sicherheitslücke aussieht."

Identitätskarte als Hürde

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den E-Voting-Systemen in Estland und denjenigen in der Schweiz besteht in der Identifizierung der Wähler: Während diese in der Schweiz Sicherheitscodes zur Verifizierung per Post zugeschickt erhalten, kommt in Estland die ID-Karte zum Einsatz. Das sei nicht nur einfacher, sondern auch sicherer, weil dadurch die Manipulation einzelner Stimmen erheblich erschwert werde, sagt Robert Krimmer. Dies anerkennt auch Jason Kitcat, obwohl er darauf hinweist, dass Hacker die zusätzliche Sicherheitshürde überwinden könnten. In der Schweiz arbeitet derzeit ein Gemeinschaftsunternehmen von staatsnahen Konzernen und Banken an einer elektronischen Identität. Allerdings gibt es noch keine gesetzliche Grundlage für solche Lösungen - diese ist im Parlament hängig.

Bundesrat will E-Voting regulär einführen

ase. · Der Bundesrat lässt sich von den kritischer werdenden Stimmen in der Schweiz nicht beeinflussen. Am 27. Juni hat die Landesregierung beschlossen, den Versuchsbetrieb in verschiedenen Kantonen durch ein reguläres E-Voting abzulösen. Bis spätestens Ende 2018 soll die Bundeskanzlei als federführende Behörde eine entsprechende Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte ausarbeiten.

Diese Absicht stösst auf breiten Widerstand. Eine Allianz aus Politikern, IT-Experten und Hackern hält die elektronische Stimmabgabe für zu wenig sicher. Zu den Kritikern gehören unter anderem die Nationalräte Franz Grüter (svp.) und Balthasar Glättli (gp.). Sie und ihre Mitstreiter werden dafür sorgen, dass der dritte Stimmkanal im Parlament auf Herz und Nieren geprüft wird. Sollte dieser Widerstand erfolglos sein, erwägen die Gegner die Lancierung einer Volksinitiative. Um das Thema breit diskutieren zu können, haben sie im Juni einen möglichen Initiativtext im Internet aufgeschaltet. Im Herbst soll über das weitere Vorgehen entschieden werden.

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