(erschienen am 26.8.2020)
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, lautet eine alte Fußballerweisheit. Außer wenn es das letzte war. Vor dem Pappelstadion am Stadtrand von Mattersburg haben Fans ein paar Friedhofskerzen aufgestellt. Sie erinnern an den SV Mattersburg, der durch den Skandal um die Commerzialbank von der Bildfläche des österreichischen Fußballs verschwunden ist.
Christa Weinberger weiß nicht, was sie davon halten soll. "Ich trauere lieber zu Hause", sagt sie. Die 51-jährige Lehrerin, blonde Dauerwelle, bunte Brille, ist heute nur für den Falter zum Stadion gekommen. "Ich hab meine zweite Familie verloren", sagt die Obfrau des Fanklubs Green-White Fighters, Tränen schießen ihr in die Augen.
Nicht nur auf den Konten der Gemeinden und Unternehmen, die im Bezirk Mattersburg mit der Pleitebank verbunden waren, klafft nun ein Loch.
Frau Weinberger ist der vielleicht größte Fan des SV Mattersburg, eines Vereins, den es nicht mehr gibt. Sie zeigt durch das verschlossene Stadiontor dorthin, wo sie immer mit ihrer Trommel gestanden ist. Ihr zweiter Ehemann habe sie nach dem Kennenlernen nicht ins Stadion begleiten dürfen, weil er sie in einem solch fanatischen Zustand nicht sehen sollte.
Christa Weinberger erinnert sich noch, wie die Mattersburg-Spieler im letzten Heimspiel vor Weihnachten immer Packerln auf die Tribüne warfen. Einmal habe ihr Sohn eines gefangen, und ein Golddukat war drin. Heute hinterlassen diese großzügigen Gesten, wie so vieles in Mattersburg, einen bitteren Nachgeschmack.
Der Commerzialbank-Gründer Martin Pucher galt in der Region als mächtiger Wirtschaftskapitän, aber auch als großmütiger Gönner - bis vor sechs Wochen, als seine Bank mit Zentrale in der Stadt Mattersburg und acht Filialen im gleichnamigen Bezirk zusperren musste. Die Verflechtungen der Commerzialbank mit der lokalen Wirtschaft waren eng und zahlreich, der Fußballklub SV Mattersburg gleichsam Puchers Visitenkarte für ganz Österreich. Heute weiß man, dass der Bankmanager seinen Laden nur durch erfundene Kredite, frisierte Bilanzen und falsche Belege über Guthaben bei anderen Banken am Leben hielt. Millionen Euro, die Pucher eigentlich nicht hatte, flossen in den SV Mattersburg, dessen Präsident er seit 1988 war. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Mit einem Schlag wurde den Mattersburgern bewusst, dass das burgenländische Fußballmärchen durch dunkle Machenschaften finanziert war. 2003 stieg der Kleinverein in die höchste Spielklasse auf und hielt sich dort mit kurzer Unterbrechung bis zuletzt, zu den größten Momenten zählen zwei ÖFB-Cup-Endspiele. Jahrelang pilgerten im Schnitt rund 10.000 Fans pro Spiel ins Pappelstadion im Schatten des Eisenbahn-Viadukts, Mattersburgs Wahrzeichens.
Wenn man heute durch die Metalltore ins Stadion schaut, sieht man noch immer die Bandenwerbung der Commerzialbank. Ein öffentlicher Elektrobus befährt die Stadt, geräuschlos, als wolle er die Totenruhe nicht stören. Auf der Website des SVM steht nach wie vor, man starte "am 11. September in die neue Bundesliga-Saison". Das Ableben des 1922 gegründeten Vereins ist noch zu frisch.
Das Stadion mit bis zu 15.700 Plätzen soll möglichst bald wieder genutzt werden, kein Mahnmal werden, ist man sich in Mattersburg einig. Das Grundstück, auf dem das Pappelstadion steht, gehört der Gemeinde. Haupttribüne und Umkleidehaus sind aber zu je einem Drittel vom SV Mattersburg bezahlt worden. Die Gemeinde wird mit dem Masseverwalter des Klubs verhandeln müssen, um das Stadion vollständig in ihren Besitz zu bekommen.
"Bei uns geben einander derzeit die Anwälte die Türklinke in die Hand", erzählt ein Rathausmitarbeiter. Denn Forderungen gibt es bei weitem nicht nur gegen den SV Mattersburg. Die Stadt Mattersburg selbst habe wenig zu befürchten, heißt es aus dem Rathaus, sie habe bei der Commerzialbank nur ein Konto mit 192.000 Euro Guthaben gehabt, auch dieses Gemeindegeld hoffe man an einen laufenden Kredit anrechnen zu können und nicht zu verlieren.
"Ich gehe derzeit davon aus, dass finanziell nicht einmal ein blaues Auge bleibt", sagt Bürgermeisterin Ingrid Salamon (SPÖ) über das Gemeindebudget. "Den indirekten Schaden werden der Bezirk und die Stadt aber noch Jahre spüren." In der Bezirkshauptstadt gehen nicht nur die Arbeitsplätze bei Commerzialbank und SV Mattersburg verloren.
In und um Mattersburg drohen auch mehrere Handwerksbetriebe, die mit Pucher arbeiteten, der Bank in die Pleite zu folgen. Auch der Florianihof, das einzige Hotel der Stadt, sperrte am Sonntag zu, wohl für immer. Die Unterkunft war eine hundertprozentige Tochter der Commerzialbank.
Symbolträchtig liegt nun auch eine fast hektargroße Baustelle in der Michael-Koch-Straße in bester Lage brach. Dort dachte Pucher besonders groß. Es sollten vier Gebäude, darunter das neue Rathaus, und eine Tiefgarage entstehen -ein "Impulszentrum", so versprach es der Bankchef der Stadt. Gegenüber dem Rathaus wollte Pucher die neue vierstöckige Zentrale der Commerzialbank hochziehen lassen. Der Baugrund gehörte der Commerzialbank Immobilien GmbH.
Erst im Dezember 2019 verkündete Pucher, schon von Schlaganfällen gezeich net, die hochtrabenden Pläne. Jetzt steht die Baustelle still, und wo an Mattersburgs Zukunft gebaut werden sollte, wuchert Unkraut.
Im Mattersburger Rathaus rollt Amtsleiter Karl Aufner eine Stadtkarte aus, drückt den Zeigefinger auf jene orangefarbene Zone, wo die Baubrache liegt, und erklärt, wie die Stadt das Projekt noch zu retten hofft. "Wir wollen natürlich weiterhin ein neues Rathaus", sagt Aufner, den wenig aus der Ruhe bringt. Die Politik wird sich, wie derzeit oft in Mattersburg, mit dem Masseverwalter einigen müssen.
Danach könnte ein Projekt in ähnlicher Größe mit einem anderen Partner entstehen. "Raiffeisen, Erste und die anderen Banken sind in Mattersburg schon in guten Objekten untergebracht. Ein Bankgebäude gegenüber dem neuen Rathaus wird's wahrscheinlich nicht mehr werden", sagt der Amtsleiter und verzieht keine Miene.
Und im Fußball? Da fängt Mattersburg wieder ganz klein an. Am 14. August wurde der MSV 2020 gegründet und widmet sich vorerst dem Jugendfußball. Viele Mattersburger Profis sind schon zu anderen Vereinen gewechselt. Leicht nahmen sie das Ende, entgegen dem Fußballerklischee, nicht. Der loyale Ex-Mattersburg-Spieler Patrick Bürger lässt ausrichten, er wolle nicht mehr über Mattersburg reden, sondern damit abschließen. Der frühere Kapitän Nedeljko Malic half im Juli sogar persönlich bei der Sponsorensuche mit, letztlich vergeblich.
Richard Vogler war auch Mattersburg-Kicker, zwei Meisterschaften hat der Abwehrspieler bis 2001 gewonnen, allerdings in der Landesliga und in der Regionalliga Ost. Vogler, heute 48 und Redaktionsleiter bei der Burgenländischen Volkszeitung, sitzt in einem Pub in Mattersburg und schnippt nachdenklich seine Zigarettenasche weg.
"Der Pucher hat den Bezirk 30 Jahre lang leben lassen", sagt er. Wenn jemand zu dem Bankchef gekommen sei und 100 Euro für karitative Zwecke wollte, habe er 300 Euro bekommen, so sei das gelaufen.
Viele Mattersburger hätten sich gefragt, wie Pucher es anstelle, dass sich der SV Mattersburg in der Bundesliga hielt. Zumal die Zuschauerzahlen ab 2008 sanken. Vogler erzählt, dass Pucher auch im Erfolg seriös schien: 1995 hätte der SV Mattersburg in die 2. Liga aufsteigen können, doch Pucher habe gesagt: "Lieber nicht, es muss natürlich wachsen, wir sind noch nicht so weit." Auch dass Pucher einen grünen Citroën und keine Luxuslimousine fuhr, habe dem Image als nüchterner Zahlenmensch entsprochen.
Solide war -im Nachhinein betrachtet - recht wenig in diesem Verein. Am 14. Juli dieses Jahres flog die Täuschung auf. "Für mich war's ein Schock, weil ich mit Mattersburg zweimal Meister geworden bin, und dann erfährst du, worauf die ganze Geschichte aufgebaut war", sagt Vogler.
Sind die Erfolge des Vereins durch die Umtriebe seines Präsidenten entwertet, wie manche Medien schreiben? Auf der Stirn von Christa Weinberger bildet sich eine Zornesfalte. "Was soll der Blödsinn?", sagt sie. "Die Spieler haben ja trotzdem gespielt und Schweiß und Tränen investiert."
Von Pucher ist Frau Weinberger bitter enttäuscht. Sie ist auch wütend, doch sie weiß, das bringt ihr den SVM auch nicht zurück. Sie fuhr zu allen Auswärtsspielen, am liebsten nach Altach in Vorarlberg, unter anderem weil sie dort den besten Glühwein bekam, eher ungern nach "Schütteldorf", wie sie Rapids Heimat nennt.
"Nach der Scheidung bin ich mit meinen zwei Kindern zu den Matches gefahren, das waren unsere Familienausflüge", sagt sie. Bei der Hochzeit mit ihrem zweiten Mann war Ex-Trainer Franz Lederer zu Gast. Frau Weinberger hat sich schon eine Plastikbox besorgt, in der sie SVM-Erinnerungsstücke verstauen will. Der neue MSV 2020 würde auch im besten Falle vier Jahre brauchen, bis er eine Kampfmannschaft in der Landesliga stellt. Der SC Neusiedl würde immerhin in der Regionalliga Ost spielen.
Frau Weinberger schüttelt den Kopf, ein anderer Klub kommt nicht infrage. "Der Fußball, wie ich ihn gelebt habe, ist für mich gestorben", sagt sie.