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Irre isoliert

Kinder und Jugendliche leiden besonders in der Pandemie. Schüler:innen, Therapeut:innen, So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen und andere Betroffene erzählen.

"Meine Generation braucht diese Zeit!"

Pauline, 18 Jahre, lebt in Kaiserslautern.

Irgendwann ging es nicht mehr. Ich stand vor der Tür der Kinder- und Jugendpsychiatrie, anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen. Seit meiner Geburt habe ich ADHS, irgendwann kam noch eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hinzu, auch Depressionen. In meinen Therapien habe ich gelernt, mit der Krankheit zu leben, Strategien erarbeitet, mit der Krankheit im Alltag umzugehen. Ich habe gelernt, dass Routinen das Wichtigste für mich sind. Feste Strukturen.

Dann kam der Lockdown und nichts war mehr, wie es war. Alle Routinen fielen weg. Ich saß zu Hause vor meinem Laptop, es war ein einziger Ausnahmezustand. Ich musste mich selbst strukturieren, mir die Arbeit selbst einteilen. Ich konnte meine Freun­d:in­nen nicht mehr sehen.

Seit ich 16 bin, wohne ich allein. Meine Eltern zahlen mir Unterhalt. Das reicht gerade so für Miete und Essen. Für den Rest gehe ich eigentlich abends kellnern. Mit dem Lockdown änderte sich das: Ich konnte nicht mehr arbeiten gehen, hatte also auch kein Geld mehr. Ich hatte kaum Kontakt zu Freun­d:in­nen und meine Familie wollte ich nicht belasten, die hatte genug eigene Probleme. Meine Mutter erzieht meine kleine Schwester allein.

Ich hatte nicht mal Geld für WLAN. Und ohne Internet im Lockdown zu Hause sitzen - was will man da groß machen? Ich habe mir morgens einen Kaffee gekocht, mich - wenn die mobilen Daten gereicht haben - vor den Online-Unterricht gesetzt. Ich habe meine Aufgaben gemacht. Dann ging ich einkaufen. Dann saß ich rum.

Ich konnte nichts streamen. Oft konnte ich nicht mal den Unterricht verfolgen. Die Leh­re­r:in­nen wussten, dass ich alleine wohne. Sie kennen auch meine Diagnose. Sie wissen, dass ich nur stabil sein kann, wenn mir Struktur vorgegeben wird: Orte, an die ich gehen kann. Verabredungen, auf die ich mich freuen kann. Aber es hat sich niemand wirklich gekümmert. Auch nicht, wenn ich gesagt habe, dass ich kein Internet zu Hause habe. Oder wenn ich gesagt habe, dass ich nicht mitkomme. Und ich habe es oft gesagt. Irgendwann habe ich entschieden, die Klasse zu wiederholen. Was hätte ich auch sonst machen sollen?

Nachts lag ich oft wach. Immer öfter kamen die Gedanken: Wofür mache ich das überhaupt? Welchen Sinn hat das noch? Ich habe gemerkt, dass ich immer weiter in eine schwere Depression falle. Ich kenne das Gefühl. Wenn ich denke, den Boden zu verlieren. Die Suizidgedanken. Und irgendwann wusste ich: Es geht nicht mehr. Ich brauche Hilfe.

Insgesamt war ich acht Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich brauchte die Routine. Das gemeinsame Essen, die Therapiestunden, einen festen Tagesplan. Das hat geholfen. Und die Klinik war voll. Mehr als voll. Pa­ti­en­t:in­nen haben auf dem Flur geschlafen. Oder in den Gruppenräumen. Anders konnten sie die vielen Krisenfälle nicht aufnehmen.

Nach der Klinik habe ich mich dazu entschieden, die elfte Klasse erneut zu wiederholen. Erst habe ich mich dafür geschämt. Zweimal wiederholen! Aber inzwischen denke ich: Diese zwei Jahre Pandemie waren die Hölle. Es fühlt sich an, als wäre in der ganzen Zeit nichts passiert. Wie ein leerer Raum. Als wäre ich an nichts gewachsen. Außer an mir selbst. Und das möchte ich nachholen. Ich brauche diese Zeit. Meine Generation braucht diese Zeit.

Alle wollen jetzt wieder was erleben. Aber unsere Gesellschaft ist eben nur darauf ausgelegt, schnell, produktiv und leistungsfähig zu sein. Kein Wunder, dass man daran früher oder später kaputtgeht.

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