Als ich hierherkam, dachte ich mir: Du kannst jetzt nicht ein halbes Jahrzehnt nur herumsitzen. Irgendwie muss man sich die Zeit vertreiben. Damals wusste ich ja noch nicht, wie alt ich mal werde. Vielleicht habe ich auch einfach nur gelernt, das Beste aus jeder Situation zu machen. Eine Kriegslehre vielleicht. Ist ja auch nicht wichtig. Jedenfalls habe ich dann, vor fünf Jahren, mit 97, angefangen, Harfe zu spielen. Und zwar Veeh-Harfe, die kann man auch spielen, ohne Noten lesen zu können.
Ich fand das auch gar nicht besonders schwer. Zugegeben, ich kann nicht behaupten, ein Naturtalent gewesen zu sein. Ich war nie besonders musikalisch, ich habe in der Gefangenschaft auch nie im Chor gesungen. Aber ein bisschen Ehrgeiz muss man ja schließlich immer mitbringen. Jeden Montagmorgen ging ich zur Probe der Harfengruppe. Anfangs waren wir zu dritt. Zwei andere Herren und ich. Irgendwann waren wir sieben. Wir lernten, das Instrument richtig zu spielen: Die Harfe leicht nach vorne kippen, die Zeigefinger unter die Saiten schieben, dann mit Gefühl zupfen. Nach der Probe habe ich das Instrument mit auf mein Zimmer genommen und alleine geübt. Erst mal einzelne Viertelnoten, dann kurze Melodien. Irgendwann haben wir mit der Gruppe gemeinsam Volkslieder, Operetten- und Weihnachtslieder gespielt.
Und wir haben sie auch ab und zu aufgeführt. Das war eine große Freude. Wir spielten im Kindergarten, beim Gemeindenachmittag oder beim Singfest in der Stadthalle. Dabei achteten wir darauf, gut angezogen zu sein. Trugen allesamt die gleiche Fliege. Das schönste Konzert war das zu meinem 100. Geburtstag. Ich erinnere mich ehrlich gesagt nicht mehr an viel. Nur daran, dass wir gespielt haben. Und die Verwandten waren da. Die hatten mich vorher noch nie spielen sehen. Und wir haben mein Lieblingslied gesungen: Heimat, deine Sterne.
Mit 102 war Schluss. Meine Augen wurden zu schwach. Ich habe alles probiert, um weiterspielen zu können: Vergrößerung, die richtigen Lichtverhältnisse. Aber es ging nicht mehr. Das Musikmachen mochte ich aber keinesfalls aufgeben. Deswegen bin ich froh, dass ich hier so vieles machen kann: Montag der Instrumentalkreis, Dienstag der musikalische Hörkreis, Mittwoch die Musikgruppe, Donnerstag der Chor, Freitag der Volkslieder-Singkreis. Ich gehe überallhin. Und natürlich besuche ich weiterhin jede Probe der Harfengruppe. Dann sitze ich dabei und verfolge die Fortschritte meiner Mitspieler. Und wenn sie einen Fehler machen, dann höre ich das sofort. Ich korrigiere sie dann auch. Höflich natürlich. Und das Gute am Alter ist: Ich vergesse ja auch schnell wieder.
Ach, wenn doch nur meine Augen so gut wären wie meine Ohren. Ich würde noch heute Veeh-Harfe spielen.
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