Fünf muslimische Frauen betreten das Foyer des Bürgerhauses in Bautzen. Ahmad Al Ajlan, ein Mann mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, begrüßt sie auf Arabisch, holt sein Aufnahmegerät aus der Tasche und legt es auf den Tisch. Das Gespräch über Alltagserfahrungen und Zukunftsängste in Deutschland will der 36-jährige Soziologe aufzeichnen, um es später auszuwerten.
Eine der Frauen, deren Gesicht ein weißes Kopftuch rahmt, sieht verunsichert aus, blickt hilflos zu ihrem erwachsenen Sohn, der sie begleitet. Am Ende entscheidet der Sohn, dass sie wieder gehen, warum, bleibt unklar. Al Ajlan kennt das: "Geflüchtete Frauen kann ich als Mann häufig nur in Gruppen treffen, und manche springen plötzlich ab, weil sie sich unwohl fühlen."
Als Wissenschaftler, der für die Uni Bielefeld den Alltag von Flüchtlingen erforscht, stößt Al Ajlan manchmal an Grenzen - und das, obwohl er ihre Lebenswelt besser kennt als viele andere Forscher. Denn Al Ajlan ist selbst Flüchtling.
Im Osten Syriens, wo seine Eltern leben, herrschte der Islamische Staat. In Damaskus, wo er bis 2014 als Soziologe an der Universität forschte, konnte er sich nicht mehr frei bewegen. Weil er den Militärdienst verweigerte, wurde er gesucht, wissenschaftliches Arbeiten war schwierig. "Bei uns galt die ungeschriebene Regel: Wir schweigen zu Religion, Politik und Sex. Aber das sind 90 Prozent aller Themen." Mit Geld seines Vaters, der ein Stück Land verkaufte, machte er sich vor drei Jahren auf den Weg nach Europa, verließ die Eltern. Nach vier Monaten und drei Versuchen hatte Al Ajlan griechischen Boden unter den Füßen. Über die Balkanroute kam er im Frühjahr 2015 in Deutschland an.
Al Ajlans Uni-Kollege am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung sagt: "Ihm macht keiner was vor." Vielleicht hat Al Ajlan auch einfach einen anderen Blickwinkel. Wenn er etwa vom Krieg erzählt, wirkt er nicht betroffen - sondern lacht. Über die Geld-zurück-Garantie bei der Schlepperbande, die ihn über das Mittelmeer brachte. Über den ersten IS-Anhänger, den er im Dorf seiner Eltern sah. "Er war so gar nicht bedrohlich, sondern trug schwarze Kleidung, hatte lange Haare und sah einfach nur verrückt aus."
Als Al Ajlan im Frühjahr 2015 nach Deutschland kam, dachte er, für Wissenschaftler wie ihn, mit Doktortitel und mit allen wichtigen Dokumenten im Gepäck, gäbe es einen Plan. Aber es gab keinen. "Ich lebte in Hamm und habe den ganzen Tag nur gegessen und geschlafen." Er begann, auf eigene Faust Kontakt zu Universitäten herzustellen, schrieb Mails an Professoren, fuhr nach Berlin, Münster und Potsdam, um sich vorzustellen. In Bielefeld wurde ihm Hilfe angeboten.
"Hier gibt es Menschen, die meinem Leben eine neue Wendung gegeben haben", sagt Ahmad Al Ajlan. Durch ein Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das geflüchtete Wissenschaftler in laufenden Projekten einen Neuanfang in Deutschland ermöglichen soll, konnte ihn die Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter einstellen - ein Nadelöhr, um in den akademischen Betrieb zu kommen. Nur 30 weitere Flüchtlinge werden derzeit auf diese Weise in unterschiedlichen Fachrichtungen gefördert.
Al Ajlan zog nach Bielefeld und konnte endlich wieder arbeiten, führte Interviews mit Flüchtlingen. Zuerst im nordrhein-westfälischen Hamm, wo er selbst sein Leben in Deutschland gestartet hatte, dann für einen Monat in Bautzen. Er stellte fest, dass sich die Menschen in Hamm um ihre Zukunft, Sprachprobleme oder Arbeit sorgen, in Bautzen aber Rassismus das größte Problem ist. "Die alltägliche Diskriminierung hat einen Effekt auf die Einstellung der Geflüchteten gegenüber Deutschland. In Bautzen hatten sie weniger Vertrauen in die Menschen und blickten pessimistischer auf ihre Zukunft."
Die 30.000-Einwohner-Stadt in Sachsen tauchte 2016 oft in den Medien auf: Eine geplante Flüchtlingsunterkunft wurde in Brand gesteckt, Rechtsradikale jagten junge Flüchtlinge durch die Gassen der Stadt, der damalige Bundespräsident Joachim Gauck wurde bei einem Besuch als "Volksverräter" beschimpft. Im Supermarkt rammte jemand Al Ajlan in der Schlange an der Kasse einen Einkaufswagen in die Kniekehlen. An einer Bushaltestelle beschimpfte ihn ein Mann, als er vorbeiging.
"Man schaut uns an, als seien wir Kriminelle oder Terroristen", erzählt er, sagt aber gleichzeitig auch: "Ich beschuldige die, die Flüchtlinge diskriminieren, nicht für ihr Verhalten. Sie sind selber Opfer der gesellschaftlichen Strukturen. Es fehlt an Vielfalt in Bautzen." Er selbst hat sich vorgenommen, mit seiner Arbeit zu vermitteln. Dazu gehört auch, den Frust von allen Seiten nachzuvollziehen.An seinem Schreibtisch an der Uni Bielefeld verbringt Al Ajlan mehr Zeit als in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung. "Am Wochenende kann ich hier in Ruhe lesen, weil dann kaum jemand da ist", sagt er. Wenn Al Ajlan nicht in seinem Büro sitzt, besucht er den Deutschkurs oder nimmt an Treffen mit Flüchtlingen und Deutschen teil, um das Sprechen zu üben. Zeit für Freunde außerhalb des Instituts, für Hobbys oder eine Freundin bleibt ihm im Moment nicht.
Um eine Karriere zu starten, muss er publizieren. Deswegen hat er viel zu tun: einen eigenen Forschungsantrag erarbeiten, deutsche Literatur lesen, die Interviews auswerten. Al Ajlans Deutsch ist noch gebrochen, das wissenschaftliche Arbeiten, das er gelernt hat, unterscheidet sich von dem in Deutschland. In Syrien sei die Forschung viel theoretischer gewesen. "Hier müssen wir Soziologen rausgehen und mit den Menschen sprechen."
Beim Erzählen wechselt Al Ajlan häufig zwischen "wir" und "ihr". Mal spricht er aus der Perspektive der Flüchtlinge, mal aus der der Deutschen. Als sei er selbst unentschlossen, zu welcher Gruppe er gehört. Vielleicht muss er sich auch gar nicht entscheiden: "Wenn ich hart arbeite, kann ich eine Brücke sein."
Dieser Text gehört zur Langzeitserie "The New Arrivals", bei der SPIEGEL ONLINE gemeinsam mit "The Guardian", "El Pais" und "Le Monde" neue Perspektiven auf europäische Flüchtlingspolitik recherchiert. Das Projekt wird durch das European Journalist Center (EJC) mit Mitteln der Bill und Melinda Gates Fundation unterstützt. Hier erfahren Sie mehr.
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