Der Eingang zum Backstage-Bereich, der aus einer weißen Plastikfolie und einem Zaun besteht, ist abgesperrt: Mit seinem Schlüsselbund durchtrennt Wladimir Müller, 28, den schwarzen Kabelbinder und macht den Weg auf den alten Gutshof frei.
Er und seine sechs Freunde sind das Organisationsteam von "Andy ist auf einem Tennisturnier", einem Festival in Tossens auf der Halbinsel Butjadingen in Niedersachen.Alles machen sie selber, oft ist dabei auch Handarbeit gefragt.
Seit 2011 sorgen Wladimir und die anderen für Abwechslung in der 6000-Einwohner-Gemeinde. Denn außer Kühen, plattem Land und Nordseeküste gibt es hier nicht viel zu erleben.
Aber kann so ein kleines Festival mit Rock am Ring oder der Fusion mithalten? Ist es sogar besser, weil man nicht mit Tausenden um Dixi-Klos ringt? Oder ist es mehr Dorfparty als Großereignis?Sobald wir das 10.000 Quadratmeter kleine Gelände betreten (zum Vergleich: Die Fusion ist 200 Mal so groß), hören wir vom Volleyballfeld aufgeregte Rufe. Im Hintergrund spielt ein DJ-Set, doch die Besucherinnen und Besucher nehmen davon kaum Notiz. Es ist der zweite Tag der Veranstaltung und schon ein Höhepunkt: Um 14 Uhr ist der Beginn des Flunkyballturniers - eine Festivaltradition.
Drei Stunden lang treten Dreierteams gegeneinander an, die sich "TVE Dauerstramm" oder "AS Tralkörper" nennen. Sie werfen einen Ball gegen eine leere Cola-Flasche und trinken dabei viel Alkohol in möglichst kurzer Zeit.
Eine Gruppe nennt sich die "Bärenbande": Sie sind seit 2011 beim Festival dabei und haben fast jedes Jahr das Turnier gewonnen. Die drei Jungs tragen zu jedem Spiel ihr bäriges Plüschkostüm, den Fellhals ziert eine überdimensionale rote Schleife. Diesmal fliegt der "FC Bayern des Turniers", wie sie sich selber nennen, schon in der Vorrunde raus. Als Trost gibt es erstmal ein Bier, das sich die Jungs vom Campingplatz mitgebracht haben.
Während die anderen Teams weiter kämpfen, feuert das Publikum sie an und schreit bei jedem Foul laut auf. Fairplay wird offenbar selbst beim Trinkspiel sehr ernst genommen.
Auch viele der restlichen Festivalbesucher sind um diese Uhrzeit schon nicht mehr nüchtern. Die Veranstalter sprechen von rund 950, davon lassen sich aber schätzungsweise nur etwa 250 blicken.
"Viele schlafen noch auf dem Campingplatz ihren Rausch aus", sagt Wladimir lachend. Denn zum Trinken gibt es genug Möglichkeiten: Drei der sechs Buden schenken Alkohol aus - Sangria, Pfeffi oder eben ganz klassisch Bier in Plastikbechern. Zum Essen gibt es Fischbrötchen, für die Vegetarier gibt es seit diesem Jahr Burritos. Die freiwillige Feuerwehr sorgt für Würstchen, Pommes und eben den Brandschutz - der Feuerlöscher steht direkt neben dem Grill.
Aus dem Dorf hilft eben jeder, wo er oder sie kann.
Da verwundert es auch nicht, dass das gesamte Festivalteam aus Ehrenamtlichen besteht. Über Facebook finden sich Menschen für den Aufbau, die Tresenschichten übernehmen Freunde der Organisatoren, das Catering für die Künstlerinnen und Künstler kommt von Wladimirs Vater: russische Fleischspieße, Kartoffelsalat und Rohkost. Diese Stimmung zieht sich durch das gesamte Festival: Viele Besucherinnen kennen sich untereinander, fallen sich immer wieder freudig in die Arme. Sie seien eben wegen der Leute hier, erzählen sie.
Für die Zeit des "Andys" kommt die Truppe um Wladimir extra in ihr Heimatdorf zurück. Sie alle sind hier aufgewachsen und wohnen während des Festivals wieder zu Hause bei ihren Eltern. Wenn sie gerade nicht ein Festival organisieren, studieren sie Theaterpädagogik oder Wirtschaftsingenieurswesen in anderen Städten. Am Festival verdienen sie nichts, das eingenommene Geld geht jedes Mal wieder in die Organisation des nächsten Jahres.
Als um 17.45 Uhr die erste Band die einzige Bühne des "Andys" betritt, lassen sich kaum Menschen zum Tanzen oder auch nur zum Zuhören hinreißen. Ob das am Pegel liegt oder an den Musikern, die rhythmisch ins Mikrofon schreien, ist schwer zu sagen.
Viele der Besucher tragen Kapuzenpullis und T-Shirts vom Hurricane, von Wacken oder Rock am Ring. Doch so ganz will die Festivalstimmung nicht aufkommen.So stark die Euphorie beim Flunkyballtunier war, so wenig ist sie bei den Auftritten der Musikerinnen und Musikern zu spüren. Die wenige Aufmerksamkeit stört auch Wladimir: Immer wieder versucht er während der Auftritte, die Menschen vom Bierstand zur Bühne zu locken.
"Das macht mich schon sehr traurig", sagt er. Doch es liege nicht an den Künstlern oder der Organisation. Die Stimmung an sich sei gut. Aber neben den erfahreneren Besuchern seien eben auch viele aus dem Dorf zum ersten Mal auf einem Festival. Deswegen gehe es eher um die Gemeinschaft und das Quatschen, als um die Musik.
Selbst ein Junggesellinnenabschied verirrt sich auf das Gelände. Auf dem T-Shirt der zukünftigen Braut steht: "Ich heirate, die anderen sind zum Saufen hier."
Als Künstler auf einem kleinen Festival zu spielen, kann aber von Vorteil sein, meint Sebastian Goldstein alias Goldroger.Er hat schon auf der Fusion und dem Hip-Hop-Festival Splash vor mehreren tausend Menschen gespielt, "aber heute sind wir Headliner", sagt er mit einem Lächeln. Auch seien die Leute viel "feierwütiger" und die Veranstalter mit dem Bier nicht so geizig. "Es herrscht einfach eine familiärere Stimmung", findet der Rapper.
Auch Wladimir will wegen des guten Feedbacks der Künstlerinnen und Künstler weitermachen. Es geht ihm um die Musik und das Zusammensein.
Als nachts um zwei Uhr der letzte Act mit lautem Bass das Publikum dann doch zum Feiern animiert, dreht Wladimir eine Runde über den Campingplatz. Während des Tages kommt er oft nicht dazu, mit den Menschen zu sprechen und mit ihnen ein Bier zu trinken. "Ich werde aus Dank für das Festival am meisten geküsst", sagt er lachend.
Denn die Menschen sind ihm dankbar - allein schon dafür, dass in ihrem Landstrich etwas geschieht. Ob sich das "Andy ist auf einem Tennisturnier" von einer Art kleinem Oktoberfest noch zu einem richtigen Festival entwickelt? Bei all dem Engagement und den Anstrengungen, die Wladimir und sein Team ein Jahr lang in die Organisation stecken, wäre es zu hoffen.
Doch den Besucherinnen und Besuchern ist es nicht wichtig, wie groß oder bekannt das Festival wird: Sie kommen auf jeden Fall wieder. Das nächste "Andys" haben sie schon im Terminkalender eingetragen.