Mit den Wohnungen ist es eigentlich wie mit den Lebensmitteln. Lebensmittel sind Mittel zum Leben, zum Überleben. Gerade in der kalten Jahreszeit fällt für die in freier Wildbahn vollkommen schutzlose, ausgelieferte menschliche Spezies auch ein Dach über dem Kopf unter diese Rubrik. Man könnte fast meinen, wohnen sei lebensnotwendig. Vollkommen surreal, dass wohnen immer mehr zum konkurrenzkampfabhängigen Luxusartikel mutiert.
9,50 Euro zahlen Freiburger*innen im Durchschnitt netto für den Quadratmeter Wohnraum im Monat. Das ist immerhin über ein Euro weniger als in München, aber etwa drei Euro mehr als in der Hauptstadt Berlin. Für eine kleine abgelegene Einzimmerwohnung müssen Mieter*innen in der Schwarzwald-City meist über 500 Euro monatlich auf den Tisch legen. Das entspricht schon beinahe dem kompletten Budget eines studentischen Haushaltes. Trotzdem kommen Jahr für Jahr fast 4.000 neue Erstsemesterstudierende nach Freiburg und der Kampf um eine bezahlbare Unterkunft wächst. „Wenn das so bleibt wie es ist, also wenn in den nächsten Jahren nichts passiert, sehe ich große Probleme“, sagt Renate Heyberger, stellvertretende Geschäftsführerin des Freiburger Studierendenwerks. Mit insgesamt 15 Wohnheimen in der Stadt und jeder Menge fancy Werbung zu Semesterbeginn, in der Rektor Schiewer diplomatisch lächelnd dazu auffordert, Zimmer an Studierende zu vermieten, versucht das Studiwerk dieser schwierigen Lage entgegenzuwirken. In den 4.500 WG-Zimmern und Apartments, die zu Preisen unter Mietspiegel-Niveau angeboten werden, kann es jedoch gerade mal 14 Prozent aller eingeschriebenen Studierenden unterbringen; alle anderen müssen sich auf dem freien Wohnungsmarkt umsehen.
Ob Bewerber*innen auf die Wohnheimplätze einen solchen auch bekommen, gleicht einem Pokerspiel. Es gebe ein System, nach dem die Zimmer vergeben werden, so Renate Heyberger, doch Wartelisten existieren praktisch keine beziehungsweise seien bei dem Ansturm kaum umsetzbar. Das Studierendenwerk baut neue Häuser, kann aber nicht sagen, wie es mit Anzahl und Situation der Studi-Wohnheime in Zukunft bestellt sein wird. Das Bundesbauministerium hat Ende des vergangenen Jahres zwar neue Förderrichtlinie zu von nachhaltigen und bezahlbaren studentischer Wohnungen vorgelegt, doch auch das ist nur „ein Tropfen auf den heißen Stein", so Ben Seel, Vorstand des freien Zusammenschlusses von Student*innenschaften. Der Umfang des Programms von 120 Millionen Euro reiche nicht aus, um 20 Quadratmeter Wohnraum für maximal 280 Euro Miete zu finanzieren.
1. Termin. Gerade noch rechtzeitig hat der Ersti, der sich in Freiburg bislang nicht besonders gut auskennt, die richtige Adresse zum verabredeten Termin gefunden. Holt noch einmal tief Luft, macht sich die Haare zurecht und klingelt schüchtern an der Tür. Drinnen ist die Party schon im vollen Gange. Fast zehn Leute haben die Glücklichen, die nur eine*n neue*n Mitbewohner*in suchen, gleichzeitig eingeladen. Die rennen wild durcheinander, gucken sich das freie Zimmer an, loben die hübsche Einrichtung der Küche, wollen alle mal auf den Balkon und vor allem ein schon bestehendes Mitglied dieser Wohngemeinschaft finden – gar nicht so einfach bei dem Gewusel –, bei dem es dann in wenigen Worten (schließlich wollen alle mal) Eindruck zu schinden oder gemeinsame Interessen zu finden gilt. Als der überforderte Ersti sich gerade wieder davon machen will, schießt noch jemand ungefragt ein Foto von ihm – schließlich wolle man sein Gesicht bei der anstehenden Entscheidungsfindung nicht schon wieder vergessen haben. „Haben wir uns überhaupt schon kennen gelernt?“, liegt dem Ersti auf der Zunge, bevor er sich verzieht. Gehört hat er von der Wohngemeinschaft nie wieder etwas.
2. Termin. Mit Zettel und Stift (na gut, die meisten mit Tablet) sowie einer kritischen Miene sitzen drei Menschen aus der WG dem Ersti gegenüber. Stellen ihm Fragen zu seinem Studiengang, seinen Hobbys, seinem Partyverhalten und der Einstellung zu Putzplänen. Nervös versucht der Ersti abzuschätzen, was diese Leute hören wollen, während er an dem Kaffee nippt und den Fremden mit jeder Antwort mehr über seine Identität preisgibt. Oder auch gar nichts. Nach einer halben Stunde, unterbrochen von den geflüsterten Beratungen und Notizen der drei Interviewer*innen, ist das Gespräch vorbei. Einer von ihnen ruft noch mal an. „Du passt leider einfach nicht so gut zu uns", sagt er so sensibel wie möglich. „Und eigentlich wollen wir auch gar keine Erstis."
3. Termin. Ziemlich schicke Villa in ziemlich guter Lage, denkt der Ersti, nachdem er die Wiehre und den prächtigen Vorgarten durchquert hat und an dem vergoldeten Türklopfer rüttelt. Vor allem für den Preis... Ein sehr zuvorkommender junger Mann öffnet, führt den Ersti durch das Haus mit den hohen Decken und den antiken Möbeln. Was für eine Ausstattung! Die Zimmer schon fertig eingerichtet, die Bibliothek prächtiger als die UB und dann erst der Biervorrat. Der nette junge Mann bietet dem Ersti einen Schnaps an und fragt: „Kannst du fechten? Und bist du eigentlich katholisch?" Der Ersti ergreift die Flucht.
4. Termin. Nachdem das Couchsurfing-Angebot des Erstis abgelaufen und er obdachlos ist, macht er sich mit seinem Rucksack und gerade genug Geld für eine weitere Zwischenmiete auf den Weg in die Notunterkunft. Zum Glück gibt es die im Oktober nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für wohnungslose Studis – dem Studierendenwerk sei Dank! In einem Haus der StuSie, der Studentensiedlung (sic!) am Seepark, schlägt der Ersti mit unzähligen anderen (bis zum Jahresende werden es etwa 200 Studierende gewesen sein) sein Lager auf einem Feldbett auf. Das kostet acht Euro pro Nacht.
5. Termin. Die Eltern des Erstis haben seine Wohnungssuche nun in die Hand genommen und ein äußerst überzeugendes Angebot gefunden: Das Freiburger Fizz, ein privates Wohnheim, das unter dem Motto „Living cum Laude" steht. „Cum Laude" ist lateinisch und bedeutet „eine dem Durchschnitt übertreffende Leistung". Konkret bedeutet das: Einzelapartments für jeden*r, ausgestattet mit Küchenzeile, Badezimmer und Desingermöbeln, Gemeinschafts-, Lern- und Seminarräume, W-Lan, Flachbildfernseher und Concièrge. Der überwacht den Eingangsbereich und fungiert als Hausmeister und Wohnheimspapa. Dank ihm - Matthias Schäpers - läuft im Fizz alles wie es soll, existiert eine harmonische Wohnheimsgemeinschaft, werden Partys in geordneten Bahnen organisiert und vor der Nachtruhe beendet und es herrscht absolute Sicherheit; hierbei wird der House Coordinator von der Überwachungskamera unterstützt. Und wenn die Eltern des Erstis ihn mal nicht erreichen sollten, können sie Matthias jederzeit anrufen und Erkundigungen über den Nachwuchs einholen. Dafür zahlen sie natürlich auch gerne die 550 Euro Miete im Monat. Der Ersti bleibt skeptisch.
Die Wohnungssituation scheint vielerorts aussichtslos zu sein. „Wohnraum ist im Grunde ein Marktprodukt wie jedes andere", sagt Horst Lieder, Vorstandsvorsitzender der bundesweiten Wohnheimkette „The Fizz". Doch überall in Deutschland und schon seit mehr als zwanzig Jahren sagen Aktivist*innen dem Immobilienmarkt den Kampf an. Eine von ihnen ist Katja. „Wohnen ist ein Menschenrecht", findet sie. Katja gehört zum Mietshäuser yndikat, einem Solidarverbund, dessen Mitglieder regional in GmbH's organisiert sind und gemeinsam Hausprojekte realisieren. Das heißt, dass verschiedene Menschen, Familien, Freund*innen, die zusammen wohnen wollen, gemeinsam ein Haus oder ein Grundstück kaufen und dieses an sich selbst vermieten - zu über Jahrzehnten stabilen Preisen. „ Uns geht es darum, Wohnungen dem Markt zu entziehen, damit mit ihnen nicht mehr spekuliert werden kann und langfristig eine stabile, das heißt niedrige Miete für die Menschen in dem Haus sicher gestellt ist", erklärt Katja. Haben die Wohnenden ihren Kredit geleistet, zahlen sie trotzdem weiter Miete und unterstützen damit das Syndikat und andere Projektinitiativen. Profitinteressen? Keine Spur! „ Eigentlich dürfte es uns gar nicht geben, denn wir verstoßen schon vom Ansatz her gegen die Marktgesetze: Profitstreben, Kapitalverwertung und persönlicher Eigentumserwerb", schreibt auch die Redaktion der Info-Broschüre des Mietshäusersyndikats („Das Mietshäuser Syndikat und die Hausprojekte - Rücke vor zur Schlossallee").
Es wirkt wie der krasse Gegensatz des Luxuswohnheims Fizz. Hier gehört jedes Zimmer einem privaten Investor und scheint mehr der Kapitalvermehrung als der Unterbringung zu dienen. „Das muss immobilienwirtschaftlich funktionieren", so der Vorsitzende Horst Lieder. „Wir bieten ein Produkt, das sich Leute leisten können - aber nicht alle Leute. Das ist auch gar nicht unser Auftrag." Leisten können es sich unter anderem die Eltern der Jurastudentin Julia, die sich im Fizz sehr wohl fühlt. „Aber manchmal erzähle ich schon gar nicht so gerne, dass ich hier wohne", gibt sie zu. Ein Vorteil, den das Fizz definitiv habe, sei der hohe Sicherheitsfaktor, der auch Horst Lieder sehr wichtig ist: „Hier soll ein Mädchen abends nach Hause kommen können, nach dem Schlüssel suchen, ohne dass sie angefallen werden kann." Ob es in diesem stereotypen Fall von der Überwachungskamera heroisch verteidigt würde, bleibt jedoch unklar.
Szenewechsel: Von Kontrolle zu Vertrauen. Zurück zum Syndikat. Dessen Mitglieder glauben vermutlich noch an das Gute im Menschen. Nicht ausbeuten, helfen wollen sie sich gegenseitig. Der Solidartransfer von etablierten Altprojekten zu neuen Projektinitiativen betrifft nicht nur den Soli-Beitrag, sondern auch soziale Vernetzung und Weitergabe von Know-How. Das sei Katja bei der Wahl ihrer Wohngemeinschaft besonders wichtig gewesen. „Wenn unser Haus mal abbezahlt ist, wird unsere Miete dazu genutzt, andere Initiativen zu finanzieren. Ich möchte nicht nur mein eigenes ‚schöner Wohnen' realisieren, sondern von meinem persönlichen Glück und Wohlstand auch wieder was abgeben." Sie wohnt in der „Kommunita Lotta", einem kleinen Hausprojekt in Merzhausen, bestehend aus zwölf Erwachsenen und vier Kindern.
Angefangen hat alles im Jahr 1989 mit dem Freiburger Grether-Projekt. Auf dem Grethergelände gründeten ehemalige Hausbesetzer*innen mit dem Wunsch nach selbstbestimmten Wohnraum das Mietshäusersyndikat, dessen Büro und Koordinationsstelle noch heute in Freiburg ist. Seitdem hat das Syndikat sich schon an 102 Haus- und Wohnprojekten in ganz Deutschland beteiligt, allein 13 in Freiburg. Das Spektrum reicht vom kleinen Einfamilienhaus bis zur SUSI in Vauban, der selbstverwalteten unabhängigen Siedlungsinitiative, und das wahrscheinlich größte Syndikatsgebäude, in der 260 Menschen aller Altersstufen leben.
Das inzwischen deutschlandweit gewachsene Mietshäusersyndikat legt jedoch nicht nur auf soziale Wohnpolitik wert, sondern auch auf basisdemokratische Strukturen und vor allem auf Selbstverwaltung. Elementar ist einerseits die andererseits Projektautonomie - enorme Herausforderung. „Aber", davon scheint Katja überzeugt, „ wer selbstverwaltet lebt, lebt auch selbstbestimmt."
Das Miethäusersyndikat zeigt Auswege aus der Investment-Spirale. Doch eine humane Wohnungspolitik kann es trotzdem nicht ersetzen. Während der Freiburger Gemeinderat ernsthaft über sozialen Wohnungsbau diskutiert, verkauft er gleichzeitig stadteigenen Wohnraum an private Investoren, zahlreiche Häuser stehen leer - und die Mieten steigen weiter. „Das ist eine selektive Politik, die Menschen mit kleinerem Geldbeutel ausschließt", findet Katja. Wie sich der Freiburger Wohnungsmarkt weiter entwickelt, hänge vor allem davon ab, ob es in Zukunft noch einen neuen Stadtteil geben wird, vermutet Renate Heyberger vom Studierendenwerk.
Die Forderung, mindestens die, sollte bleiben: Häuser denen, die drin wohnen!
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