Frau Gieß-Stüber, seit den Olympischen Sommerspielen 2012 sind Frauen zwar in allen Sportarten vertreten, aber bei den Winterspielen müssen sie in der Nordischen Kombination noch zuschauen. Und auch die Tour de France ist nur den Männern vorbehalten. Von Gleichberechtigung kann im Sport noch keine Rede sein, oder?
Petra Gieß-Stüber: Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 durften gar keine Frauen teilnehmen. Seitdem gibt es eine kontinuierliche Entwicklung. Aber wir sind unterschiedlich weit, je nachdem, wo wir hinschauen. Ungerechtigkeiten zeigen sich nicht mehr so plakativ. Bei den Olympischen Spielen in Tokio nehmen erstmalig gleich viele Sportlerinnen und Sportler teil. Bei den Paralympics hingegen liegt die Teilnahmequote der Frauen bei nur etwa einem Drittel. Hier verstärken sich Benachteiligungseffekte von Behinderung und Frausein gegenseitig.
Geht es denn im Freizeitsport gerechter zu?
Der Sport ist inzwischen so ausdifferenziert, dass Menschen mit den unterschiedlichsten Interessen ihre Nische finden können. Das ist aber abhängig davon, wo ich lebe und welchen sozialen Status ich habe. Im ländlichen Raum, wo es nur ein oder zwei Vereine gibt, bin ich darauf angewiesen, zu den dort angebotenen Sportarten eine Affinität zu haben. Da sind Frauen meist im Nachteil. Grundsätzlich haben Jungen und Mädchen formal den gleichen Zugang, es gibt aber immer noch auffällige Teilhabemuster.
Das müssen Sie genauer erklären.
Jungen und Mädchen sind allgemein ähnlich häufig körperlich aktiv, das zeigen neuere Studien. Aber im organisierten Sport, der mehr auf Wettkampf ausgerichtet ist, haben wir etwa ein 60:40-Verhältnis. Das ist auch abhängig von der Sportart – im Reiten und Synchronschwimmen findet man zum Beispiel sehr wenig Jungs.
Warum wird im Sport überhaupt so stark nach Geschlechtern differenziert?
Dahinter steckt der Fair-Play-Gedanke. Für einen Wettbewerb versucht der Sport, die Ausgangschancen anzugleichen. Deswegen haben wir Alters- und Gewichtsklassen, Ligabetrieb und eben die Aufteilung nach dem Geschlecht. Dabei wird unterstellt, dass Mädchen selbstverständlich Jungen unterlegen sind.
Dann gibt es noch die gesellschaftlichen Vorstellungen.
Von Tag eins an werden Jungen und Mädchen typischerweise in unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten unterstützt und gefördert. Bereits im Schuleintrittsalter haben Jungen und Mädchen dann unterschiedliche Fertigkeiten und Vorlieben entwickelt. Diese Vorstellungen, die an die Kinder herangetragen werden, basieren zum Teil auf historisch gewachsenen Vorbehalten gegen den Sport von Frauen oder auf Klischees. O-Ton einer Grundschullehrerin in den 2020er-Jahren: „Mädchen nehme ich zu dem Fußballturnier nicht mit. Die kriegen dann einen Ball an den Kopf und machen nur Probleme.“
Sollte es mehr geschützte Räume geben, um sich in Sportarten auszuprobieren?
Für Mädchen mag es unangenehm sein, mit Fußball anzufangen, wenn Jungs dabei sind, die schon seit fünf Jahren spielen. Das kann auch für Jungen gelten, die sich im Tanzen üben wollen. Geschützte Räume sollten einen Zugang zu etwas Neuem ermöglichen. Darüber hinaus wäre es ideal, wenn Jungen und Mädchen möglichst viel gemeinsam Sport machen.
Spätestens mit der Einführung der Kategorie „divers“ im Geburtenregister muss sich der Sport damit befassen, dass es mehr als nur Mann und Frau gibt.
Menschen, die weder in den Frauen- noch in den Männer-Wettbewerben teilnehmen wollen oder können, haben ein Problem. In den 1960er-Jahren wurden bei Spitzensportereignissen noch Geschlechtertests durchgeführt. Inzwischen wird erwartet, dass Personen ohne eindeutige Geschlechtszugehörigkeit eine operative oder hormonelle Anpassung durchführen. Die internationalen Verbände werden sich zukünftig damit auseinandersetzen müssen, ob die Kategorie Geschlecht noch das ideale Kriterium ist, um Wettbewerbsklassen zu definieren.
Im Berliner Fußball-Verband dürfen sich Menschen mit dem Eintrag „divers“ aussuchen, wo sie spielberechtigt sind. Transmenschen dürfen in dem Geschlecht spielen, an das sie sich angleichen lassen.
Bis offizielle Sportfachverbände eine so offene Regelung übernehmen, wird es noch dauern. Wenn man im internationalen Spitzensport die Kategorie Geschlecht vermeiden will, dann müsste man sagen, dass Menschen mit hohem Testosteronhaushalt in allen Sportarten, in denen es um höher, schneller und weiter geht, im Vorteil sind. Das ist häufig die Kategorie Mann. Frauen wird zugemutet, ihren Testosteronspiegel den normativen Vorstellungen von Frausein anzupassen. Die Vorstellung, dass es ausschließlich zwei Geschlechter gibt, die man trennscharf einordnen kann, ist sehr dominant.
Vor welchen Hürden steht der Sport noch auf dem Weg zur Gleichberechtigung?
Jungen und Mädchen müssten unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit und entsprechend ihren individuellen Talenten gefördert werden. Die Leistungen von Sportlerinnen und Sportlern werden unterschiedlich anerkannt. Wir brauchen eine gesellschaftliche Akzeptanz dafür, dass das, was Frauen und Männer leisten, gleichermaßen anerkannt und honoriert wird. Genauso im Trainerinnen- und Trainerbereich – in den Jobs, die gut bezahlt und mit einer gesellschaftlichen Reputation verbunden sind, finden wir fast nur Männer.
Wo müssen Lösungen ansetzen?
Institutionen müssen konsequent sagen, dass sie gleichberechtigte Zugänge und Teilhabe fördern. Wenn es keine Menschen gibt, die sich für den Frauensport starkmachen, dann bleibt er marginalisiert. Verbände, die ein transparentes Rekrutierungsverfahren für Positionen haben, haben ein ziemlich ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Das habe ich auch in meinen Studien festgestellt. Solche Verfahren sind aber nicht die Regel.
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