Der Kloß weckt mich mitten in der Nacht. Er steckt in meinem Hals, fühlt sich weich an und ist etwa so groß wie ein Tischtennisball. Ich greife nach dem Wasserglas auf meinem Nachttisch, um ihn wegzuspülen. Aber der Kloß taucht nach jedem Schluck wieder auf. Wie ein Ball, den ich unter Wasser drücken will, schießt er zurück an die Oberfläche. Als das Glas leer ist, verkrampft sich mein Magen. Fühlt sich zu voll an. Ist mir schlecht?
Mama?
Der Kloß macht mir das Atmen schwer. Ich werde nervös, spüre den Druck nun im ganzen Körper. Ich schlage die Bettdecke auf, spanne die Beine an, die Arme, winde mich wie ein Fisch im Netz. Ich muss diesen Druck doch irgendwie loswerden. Ich bin der Fisch. Ich bin das Netz.
Mamaaa?
Endlich knarzen die Treppenstufen, meine Zimmertür öffnet sich, und ein Lichtstrahl fällt herein. Ich bin zehn Jahre alt und liege in dem Kinderbett, das mein Vater für mich gebaut hatte, bevor er starb.
Mama, ich glaube, ich muss brechen.
Wenig später kauere ich vor der Kloschüssel. Ich würge. Doch da kommt nichts.
Der Druck bleibt.
Der Kloß auch.
Als ich aufstehe, können meine Beine mich nicht halten. Ich entgleite dem Griff meiner Mutter. Die Badezimmerfliesen sind kalt und klamm. Die Kälte kriecht durch mein Nachthemd in meinen Körper hinein.
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Meine Mutter reißt das Fenster auf. Sie sagt, ich soll atmen. Legt mir die Hände auf den Bauch. Tief ein. Und lange aus. Vor dem Fenster weht die Gardine, meine Mutter hat ein Schiff hineingestickt. Seine Segel blähen sich auf, und ich atme die kalte Nachtluft ein. Sie schmeckt frisch, kribbelt meine Luftröhre hinunter wie Mineralwasser. Ein, ein, ein, aaaus. Ich atme, bis meine Hände zittern und schließlich mein ganzer Körper. Langsam gewinne ich mich zurück. Ich zittere, weil mir kalt ist. Ich zittere, weil ich hyperventiliere. Ich mache das. Ich kontrolliere das. Dann fließen endlich die Tränen.
Ein bis zwei Nächte in der Woche lief das so ab. Warum, das konnte sich keiner erklären. In manchen Nächten wollte meine Mutter einen Krankenwagen rufen. Doch wenn ich auf dem Badezimmerboden lag, wurde es besser. Manchmal rannte ich sogar nach draußen und legte mich ins nachtfeuchte Gras.
Meine Mutter brachte mich zu meinem Kinderarzt. Ein Asthmaanfall? Asthma hatte ich, seitdem ich ein Kleinkind war. Also inhalierte ich fortan jeden Abend, doch den Kloß beseitigte das nicht.
Meine Mutter brachte mich zu einem Herzspezialisten. Schließlich waren mein Vater und mein Großvater herzkrank gewesen. Aber das EKG zeigte keine Auffälligkeiten. Dass meine nächtlichen Anfälle womöglich keinen physischen Grund hatten, auf diese Idee kam lange Zeit niemand.
Schließlich fuhren wir zu einer Heilpraktikerin namens Jenny. Sie kam zu dem Schluss, dass es eine Wasserader sei, die mich nachts aufschrecken ließ. Also stellten wir das Bett an einen anderen Platz und eine Flasche Wasser in den Kühlschrank, die sie mit "Wellen" versetzt und mit Alufolie beklebt hatte. Im Notfall sollte ich einen Schluck daraus trinken. Es war Hokuspokus. Aber manchmal half es. Ich glaubte an die Wirkung.
Diese Odyssee ist nun zwanzig Jahre her. Meine Ärzte suchten für jedes Symptom eine körperliche Ursache. Für den Kloß in meinem Hals, die Schwere in meiner Brust, die Übelkeit in meinem Bauch. Niemand erkannte, was mich wirklich nachts so häufig weckte. Meine Diagnose stellte ich schließlich selbst.
Ich war 14 Jahre alt, und meine Mutter arbeitete bis zum späten Nachmittag. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, wärmte ich mir das Mittagessen auf und setzte mich damit vor den Fernseher, was ich eigentlich nicht durfte. An einem dieser Nachmittage lief eine Folge von We Are Family. Auf dem Bildschirm sah ich eine Frau, der es ging wie mir. Wenn sie das Haus verlassen wollte, zitterte sie. Ihr wurde übel, sie hyperventilierte und hatte Todesangst - scheinbar aus dem Nichts. Der Kommentator sagte, sie leide unter "Panikattacken".
Ich fragte meine Ärztin, ob es sein könne, dass ich auch Panikattacken habe. Sie überwies mich an eine Psychotherapeutin. Mit 15 erhielt ich die Diagnose: Panikstörung, Platzangst, leichte depressive Episode.
Anfangs waren es "nur" die nächtlichen Panikattacken in meinem Kinderbett. Später übermannten mich die Attacken auch tagsüber: im Bus, in der Schule, in Clubs, dann auch im Auto, im Büro, in der Enge, in der Höhe. Ich habe tiefenpsychologische, verhaltenspsychologische Therapien und eine Behandlung mit Antidepressiva hinter mir. Manchmal glaube ich, der Kampf sei gewonnen. Wenn ich gerade wieder eine Therapie oder einen Klinikaufenthalt beendet habe, ist es, als hätte ich die Angst ganz tief in einen Rucksack gestopft. Den trage ich dann mit mir herum, die Angst ganz unten drin, überdeckt von meinem sonstigen Leben. Aber schließlich kriecht sie doch wieder hervor und schlingt sich mir von hinten um den Hals.
In der Stille des zweiten Lockdowns, mitten im Winter, übernahm die Angst einmal wieder die Macht über mich. Dabei hatte ich versucht, es zu verhindern: Wann immer es irgend möglich war, kochte ich zusammen mit meinem Freund oder ging mit Freunden spazieren, ich erfüllte mir sogar einen Kindheitstraum und kaufte mir einen Hund. In meinem Wohnzimmer hatte ich meinen Arbeitsplatz so eingerichtet, dass ich von meinem Schreibtisch aus den weitestmöglichen Blick hatte. Ich saß mit dem Rücken zur Wand, überblickte von dort die Sofaecke, sah die Tannenzweige auf meinem Balkon im Wind zittern und meine Nachbarin im Wohnhaus gegenüber, die wie ich allein an ihrem Tisch saß und auf einen Laptop starrte.
Doch wenn die Videocalls mit Kollegen oder Freunden vorbei waren, wenn mein Laptop in den Ruhemodus schaltete, der Bildschirm schwarz wurde, dann sah ich darin doch nur mein sich spiegelndes Gesicht. Die Pandemie hatte mich auf mich selbst zurückgeworfen.
Von Tag zu Tag wurde ich nervöser, immer öfter raste mein Herz. Und immer häufiger brach ich weinend zusammen. Meine Wohnung, mein Körper - alles fühlte sich immer enger an. Jeder Text, den ich als freie Journalistin schreiben sollte, jagte mir Angst ein. Was, wenn ich es nicht schaffen würde? Was, wenn meine Angstattacken dafür sorgen würden, dass ich die Deadline nicht einhalten konnte? Die Zweifel wurden zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Ich geriet in einen Teufelskreis: Ich bekam Angst vor der Angst.
Doch trotz dieses Horrors war dieses Mal etwas anders: Obwohl ich allein in meiner Wohnung war, fühlte ich mich paradoxerweise mit meiner Angst nicht so allein wie sonst.
Von Freunden und aus den Medien wusste ich, dass die Isolation, die Einsamkeit und drohende oder tatsächliche Verluste während der Pandemie bei vielen Menschen für ein beklemmendes Gefühl sorgten. Die Anzahl derjenigen, die über Symptome einer Depression oder Angststörung berichteten, ist während der Pandemie weltweit gestiegen. Zwei Drittel der Deutschen fühlten sich durch die anhaltende Corona-Krise stärker mental belastet. Wer sowieso schon mit einer psychischen Erkrankung kämpfte, gab besonders häufig an, das Gefühl zu haben, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.
Erstaunlicherweise tröstete mich das. Ja, wir waren in der Krise vereinzelt, aber der gemeinsame Schmerz wirkte auf mich wie ein unsichtbares Band. Vielleicht bin ich - vielleicht sind wir alle - ja gar nicht "gestört", dachte ich. Wenn so viele Menschen Angst haben, nicht mehr für das Leben gewappnet zu sein, vielleicht sind diese Gefühle dann genau die richtige Reaktion auf ein gestörtes System. Und Corona ist das Brennglas, unter dem das deutlich wird.
Also schrieb ich eine E-Mail ans ZEITmagazin. Darin stand, dass ich endlich offen mit meiner Angst umgehen wolle, indem ich meine Geschichte mit ihr aufschreibe. Ich war dabei getrieben von einer Hoffnung: Ich hoffte, dass diese schreckliche Pandemie am Ende doch noch etwas Gutes haben könnte. Dass an ihrem Ende nicht nur ich, sondern mehr Menschen als je zuvor erkennen würden, dass eine mentale Krankheit kein persönlicher Makel ist.
Nur machte ich einen Fehler. Es war idiotisch, diese E-Mail an einem Freitag abzuschicken. Natürlich hieß das, dass ich mindestens ein Wochenende lang auf eine Antwort der Redaktion warten müsste. Das bot meiner Angst genug Zeit, mich zu bedrängen.
Willst du dich wirklich so nackt machen?
Was werden die Leute über dich denken?
Wird dich jemals wieder irgendjemand einstellen, wenn er weiß, dass du ein Psycho bist?