Um 14 Uhr ist es so weit. Gudrun Lutz wiegt das Fläschchen in ihrer Hand, als wäre darin flüssiges Gold. Im Licht, das durchs Laborfenster fällt, schimmert der Covid-19-Impfstoff Comirnaty von BioNTech/. Gerade hat sie den aufgetauten Stoff mit Kochsalzlösung gestreckt, nun kann er in die Spritzen gezogen werden. Das ist der schwierigste Teil. Vorsichtig schwenkt sie die Mixtur hin und her, damit der Bodensatz sich löst.
Ein Fläschchen Impfstoff ergibt sechs Dosen. Für Gudrun Lutz, die Hausärztin, sind das sechs Patienten, denen sie im besten Fall das Leben retten kann. Doch mit viel Konzentration und etwas Glück kann man sogar sieben Impfdosen aus einer Flasche ziehen. Für den Fall, dass es klappt, hat Gudrun Lutz eine "Jokerliste" vorbereitet. Ein Patient mehr.
Seit Monaten hatten Hausärzte überall in Deutschland darauf gewartet, dass auch sie endlich impfen können:
"Hausarzt klagt an: Warum darf ich meine Patienten nicht gegen Corona impfen?", Münchner Merkur, 11. Februar.
"Hausärzte: 'Brennen darauf, endlich impfen zu können'", Bayerischer Rundfunk, 9. März.
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"Verzögern die Länder den Impfstart in den Praxen absichtlich?", Bild-Zeitung, 11. März.
50.000 Hausarztpraxen gibt es in Deutschland. Ihrem Verband zufolge hatten bis 35.000 von ihnen Impfstoff vorbestellt. Am Dienstag vergangener Woche trafen die ersten Lieferungen ein. Und obwohl viele Praxen noch etwas länger warten mussten, hatte sich die Zahl der täglichen Erstimpfungen dem Robert Koch-Institut zufolge schon einen Tag später verdoppelt.
"'Wir haben jetzt 50.000 Impfzentren'", Bild-Zeitung, 10. April.
Wie viel Einsatz dahintersteckt, merkt man, wenn man einen Hausarzt sucht, der sich über die Schulter schauen lässt. Es ist schwer genug, am Telefon überhaupt mal durchzukommen. Klappt es, wiegeln meist schon die Angestellten ab: "Wissen Sie eigentlich, was hier los ist?"
Ein Anruf beim Hausarzt, nur mal nachfragen, für viele ist das ein Funken Hoffnung nach einem Jahr . Vielleicht kann er ja die Großmutter, die gerade 79 und noch nicht 80 ist, oder den alleinerziehenden Vater mit den kleinen Kindern in der Warteliste nur ein Stückchen weiter hochziehen? Jetzt ist Frühling. Jetzt impft mein Hausarzt. Vielleicht wird doch noch alles gut?
Die Praxis Dr. Lutz im niedersächsischen Helmstedt erhielt ihre erste Lieferung gleich am Dienstag nach Ostern. Gudrun und Stephan Lutz haben sich im Krankenhaus kennengelernt, er war in der Facharztausbildung, sie im Praktikum. Seit 20 Jahren sind sie verheiratet, seit zehn Jahren leiten sie die Praxis gemeinsam. Er 54, sie 48, nach der Arbeit machen sie im Wohnzimmer Body-Pump-Work-outs, um runterzukommen. Sie sind Sportler, so betrachten sie auch ihre Arbeit. Sie haben den Ehrgeiz, den Marathon Corona-Pandemie endlich zu Ende zu bringen. Auch wenn die Sache langsam an die Substanz geht.
Heute arbeitet Stephan Lutz in Sprechzimmer 1, Gudrun Lutz in Sprechzimmer 2. Die Patienten warten auf dem Flur. An den Wänden hängen Fotos von Helmstedt: die alte Universität, das Kloster St. Marienberg. Stephan Lutz ist hier aufgewachsen, die Fotos hat er selbst geschossen. Die Patienten sollen sich zu Hause fühlen. Helmstedt, 25.000 Einwohner, die A2 rauscht vorbei, davor erstrecken sich die Hügel des Elm-Lappwaldes. Ein Städtchen, gerade noch klein genug, dass doch jeder ein bisschen jeden kennt. Früher ging man zu Lutz senior, dann zum Junior, und mittlerweile wollen vor allem die älteren Damen am liebsten zur Frau Doktor.