Mein letztes Kompliment galt Julias Wintermantel, das war im Februar. Der blutrote Stoffmantel hing über ihrem Bürostuhl. Julia war meine Kollegin. Ich kenne sie kaum, aber wir haben uns die Arbeit gerne mit Komplimenten versüßt. Seit wir im Homeoffice sind, geht das nicht mehr. Mit dem ersten Lockdown sind Julia und unsere kleinen Höflichkeiten aus meinem Leben verschwunden.
Ich habe lange überlegt, ob ich Julias echten Namen hier überhaupt nennen soll. Nennt man jemanden einen Bekannten, der sich für einen Freund hält, ist man schnell unten durch. Bekanntschaften haben ein schlechtes Image. Sie gelten als oberflächlich und austauschbar. Seit den Kontaktbeschränkungen sind sie geradezu verboten. Bekannte standen schon immer am Rand des Freundeskreises, doch stolpert man derzeit über diesen Rand, landet man in einer gesundheitlichen No-Go-Area. Familie? Klar, wenn man zusammenwohnt. Freunde? Unter Auflagen erlaubt. Aber Bekannte? Julia begegne ich zurzeit höchstens noch in meinem Instagram-Feed. Gesundheitlich ist es nachvollziehbar, dass wir unsere Kontakte eingrenzen müssen. Aber unterschätzen wir damit den Wert von Bekanntschaften? Was macht es mit uns, dass man sie uns nimmt?
Vielleicht liegt das Problem der Bekanntschaften schon im Begriff. Ein Bekannter ist eben einfach nur ein Mensch, den man kennt. Freut mich, ihre Bekanntschaft zu machen! Das klingt nicht nur oberflächlich, sondern so steif und staubig wie ein alter Hutständer. Aber die Anzahl wirklich guter Freunde ist nun mal begrenzt. Laut Robin Dunbar, einem renommierten Forscher der Oxford University, kann man höchstens fünf Freunde haben, Bekannte hingegen bis zu 500. Doch wo hört Bekanntschaft auf und wann fängt Freundschaft an?
Bekannte aber haben eine ganz andere Funktion: Sie helfen uns, uns in der Gesellschaft zu verorten.
Der US-amerikanische Wissenschaftler Jeffrey Hall hat gemessen, wie viele Stunden es braucht, bis aus einer Bekanntschaft eine Freundschaft wird. Dafür hat er Erstsemester befragt und herausgefunden: Es dauert 40 bis 60 Stunden. Das Level einer "guten" Freundschaft erreicht man frühestens nach 80 Stunden. Doch selbst dann hat man nur eine 50-prozentige Chance - man muss sich schließlich auch sympathisch sein. Es ist also nicht nur die Menge der Stunden, die entscheidend ist, sondern auch wie viel Mühe man sich gibt. Um befreundet zu sein, muss man aktiv werden. Aber mit manchen Menschen, no offence, will ich gar nicht befreundet sein - selbst wenn ich sie mag.
Als es in Berlin noch Partys gab, traf ich ab und an ganz zufällig Johannes. An einem Abend sprachen wir hauptsächlich über Katzen. Johannes hat eine, ich wollte eine und danach schickten wir uns lange Anzeigen aus Berliner Tierheimen hin und her, so lange, bis ich mich doch für einen Hund entschieden und wir uns erstmal nichts mehr zu sagen hatten. Ich schätze Johannes. Aber ich weiß weder, ob er derzeit einsam ist oder schon übers Heiraten nachdenkt, noch wie er Weihnachten verbringen wird. Johannes und mein Verhältnis ist freundlich, aber oberflächlich. Aber das macht unser Verhältnis noch lange nicht wertlos.
Janosch Schobin ist Soziologe und forscht an der Universität Kassel zu Freundschaften, Netzwerken und sozialer Isolation. "Je ferner ich eine Person von mir verorte, desto weniger spielen Gefühle eine Rolle", sagt Schobin. Er teilt Beziehungen in " strong ties" und " weak ties", also starke und schwache Verbindungen, ein. Freunde geben uns demnach emotionalen Halt. Bekannte aber haben eine ganz andere Funktion: Sie helfen uns, uns in der Gesellschaft zu verorten. "Der Mensch braucht ein Publikum, vor dem er Anerkennung und sozialen Status erfahren kann. Dass ich wertgeschätzt werde, anderen sympathisch bin, angenommen werde. Da spielen Bekanntschaften eine große Rolle", sagt Schobin.
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