"Ich bin in der neunten Klasse sitzen geblieben. Das hat mich damals extrem aufgeregt und war mir auch sehr unangenehm gegenüber meinen Kumpels und meiner Familie", sagt Robin.
"Ich bin noch nie sitzengeblieben", sagt Evi, "aber schon die Vorstellung finde ich nicht besonders toll. Neue Klasse, neue Mitschüler - darauf hatte ich keine Lust. Deshalb hab' ich mich zusammengerissen und mehr gelernt, als es vor ein paar Jahren eng wurde. Es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Bei einer Freundin von mir war es ähnlich. Ohne die Angst davor sitzenzubleiben, hätte man sie wahrscheinlich nicht zum Lernen gebracht."
Die bildungspädagogischen Ansätze der deutschen Bundesländer sind unterschiedlich, wenn es um das Thema Versetzung geht: Während das Sitzenbleiben in Hamburg komplett und in Berlin teilweise abgeschafft wurde, wird es in Ländern wie Bayern als wichtiges bildungspädagogisches Instrument betrachtet.
Sitzenbleiben als Ansporn
Evis Fall bestätigt die Taktik, die in Bayern verfolgt wird: Sitzenbleiben gilt dort als Ansporn, um Schüler zum Lernen und Besserwerden zu animieren. "Schüler in Bayern werden auch in Zukunft keinen Freifahrtschein bis zum Abi bekommen, ohne etwas leisten zu müssen", sagt Ludwig Unger vom bayerischen Bildungsministerium.
Gegner des Sitzenbleibens rechnen immer wieder vor, wie viel Geld ein zusätzliches Schuljahr kostet - nach Auffassung des bayerischen Bildungsministeriums ein grober Fehler: Man dürfe ein zusätzliches Schuljahr nicht unter dem Aspekt Geld sehen, glaubt Unger. "Man sollte den Schülern die Zeit einräumen, die sie brauchen. Wiederholen ist kein Stigma, sondern eine Chance." Das zu kommunizieren, sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, liege aber besonders in der Verantwortung der Lehrer. "Sitzenbleiben ist sozusagen ein kostenloses Nachhilfejahr, das dazu verhelfen kann, den erstrebten Abschluss doch noch zu schaffen", sagt auch der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger.
Gefühl der Beschämung
"Natürlich ist das anfangs erst einmal ein Schock - zu erfahren, dass man sitzenbleibt", räumt Meidinger ein. Wie schwer der ausfalle, hänge auch stark davon ab, wie die Eltern mit der Situation umgingen. "Bei den meisten Wiederholern ist das Gefühl der Beschämung nach ein bis zwei Wochen auch schon wieder weg." Das Erleben, in der neuen Klasse akzeptiert zu werden, und die anfangs meist deutlich besseren Leistungen würden zusätzlich das Selbstbewusstsein steigern.
Robin wurde in der neuen Klasse "super aufgenommen" und fand gute Freunde. "In der neuen Klasse war ich der Älteste. Das machte einiges leichter, ich kam mir sogar ein bisschen wie der Anführer vor." Trotzdem dauerte es ein halbes Jahr bis er sich mit dem Wiederholen abgefunden und an die neue Klasse gewöhnt hatte. Er wäre damals froh gewesen, wenn es kein Wiederholen gegeben hätte - so wie an Berliner Gymnasien.
Die Schüler dort können nicht sitzenbleiben; an allen anderen Schulen sind Wiederholungen nur auf freiwilliger Basis erlaubt. An die Stelle des Sitzenbleibens ist kostenloser Förderunterricht für alle getreten. Beate Stoffers, Sprecherin für Bildung der Senatsverwaltung, verweist auf Studien des Bildungsforschers John Hattie. Die hätten gezeigt, dass das Wiederholen im Einzelfall zwar etwas bringen könne, im Großen und Ganzen aber wenig erfolgversprechend sei. Stoffers zufolge sind andere Dinge entscheidend: "Welche Förderangebote gibt es für die verschiedenen Altersstufen? Welche pädagogischen Strategien brauche ich, um eine heterogene Gruppe von Schülern zu motivieren?"
In Hamburg wurde das "automatisierte Sitzenbleiben" mit der Schulreform 2008/2009 komplett abgeschafft. "Wer schlechte Noten hat, muss am Nachhilfeunterricht teilnehmen und seine Defizite abbauen", erklärt Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde. Nur in besonderen Situationen kann ein Schuljahr wiederholt werden - zum Beispiel, wenn ein Kind lange krank war.
Manchen Schülern und Eltern falle es schwer zu akzeptieren, dass die Nachhilfe verpflichtend sei, sagt Albrecht - vor allem, wenn sie an einem Samstag stattfände. Überdies mangle es teilweise an Personal für die Nachhilfemaßnahmen. Auch die Koordinierung sei "etwas, wo es hier und da mal hakt." Insgesamt sei die Regelung nach der neuen Schulreform aber eine sehr gute Entscheidung gewesen, heißt es.
Auch wenn er sich anfangs schwer tat, das zusätzliche Schuljahr zu akzeptieren; abschaffen würde Robin das Sitzenbleiben nicht: "Man ist anschließend schulisch motivierter und reifer."
"Klar, manchen tut das Sitzenbleiben gut", sagt Engelbert Prolingheuer. Als Lehrkraft für Latein, Philosophie und Geschichte unterrichtet er seit 2006 in Hamburg. "Ich glaube aber, dass das auch häufig mit dem Prozess des Älterwerdens zu tun hat." Insgesamt hält der Gymnasiallehrer Sitzenbleiben für ineffektiv, weil alle Fächer wiederholt werden müssen, obwohl die Schüler häufig nur in ein paar Fächern schlechte Noten haben.
Seit das Sitzenbleiben abgeschafft wurde, habe sich kaum etwas an den Leistungen der Schüler verändert. "Noten gibt es ja auch jetzt noch. Und den Schülern ist es unangenehm, mit lauter Fünfen nach Hause zu kommen, auch wenn sie dadurch nicht sitzen bleiben." Und: "Die Schüler haben nicht viel Lust darauf, nach einem langen Schultag noch in den Förderunterricht zu gehen."
"Es gibt kein Idealsystem!"
DPhV-Chef Meidinger würde das Sitzenbleiben zwar nicht abschaffen, warnt aber vor pauschalen Aussagen: "Es gibt kein Idealsystem!" Der DPhV-Vorsitzende - selbst Sitzenbleiber - unterscheidet mehrere Gruppen von Schülern. Eine Gruppe bildeten diejenigen, die "eine vorübergehende Leistungsschwäche" hätten, wie es Meidinger nennt. Eine solche Schwäche könne zum Beispiel dann eintreten, wenn es Probleme zu Hause gebe. In diesen Fällen sei nicht das Leistungsvermögen das Problem. "Ich bin der Auffassung, dass Wiederholungen dieser Art mit den geeigneten Coachingmethoden und zusätzlichen Förderressourcen vermieden werden könnten", sagt Meidinger.
Daneben gebe es aber auch Schüler, die zwar ebenfalls leistungsfähig seien, sich aber einfach nicht anstrengen würden. "Das Problem hat man häufig in Klasse sieben und acht. In dieser Zeit sind eben andere Dinge viel interessanter als Schule, daran kann man nichts ändern." In diesen Fällen sei eine Nichtversetzung sinnvoll. "Aber nur dann, wenn die Motivation stimmt. Ansonsten kann es sinnvoller sein, die Schule zu wechseln."
Sicher ist: Einigkeit gibt es beim Thema Sitzenbleiben nicht. Was für einen Schüler gut ist, schadet einem anderen vielleicht. Ob die Wiederholungsmöglichkeit sinnvoll ist oder nicht, hängt aber auch von den bildungspädagogischen Maßnahmen ab, mit denen sie kombiniert wird.
Evi jedenfalls steht nicht schlecht da. Seit sie nach der neunten Realschulklasse fast sitzengeblieben wäre, hat sie sich in der Schule mehr Mühe gegeben und ihre Noten deutlich verbessert. Mittlerweile besucht sie ein Wirtschaftsgymnasium.