An diesem Sonntag beginnt mit Jom Kippur das höchste Fest im Judentum. Als die Jüdinnen und Juden das Fest vor etwa einem Jahr in Halle feierten, versuchte ein Rechtsextremist erfolglos, ihre Synagoge zu stürmen. Anschließend tötete er zwei Menschen. Elischa Portnoy ist seit zwei Jahren Rabbiner in Dessau und Halle, er hat die Menschen in seiner Gemeinde durch das vergangene Jahr begleitet.
ZEIT ONLINE: Herr Portnoy, an diesem Sonntag feiern Sie wieder Jom Kippur. Was bedeutet das für Sie?
Rabbiner Portnoy: Jom Kippur ist ein Versöhnungstag. Doch es ist schwer sich zu versöhnen, wenn zwei unschuldige Menschen getötet wurden. Das können wir dem Täter nicht verzeihen. Doch wir möchten auch positiv nach vorn blicken. Wir hoffen, dass durch den Prozess gegen den Attentäter Gerechtigkeit hergestellt wird.
ZEIT ONLINE: Wenn Sie auf das vergangene Jahr zurückblicken, was geht dann in Ihnen vor?
R. Portnoy: Da ist einerseits die Wut, weil unschuldige Menschen ermordet wurden. Das hat unser Gemeindeleben durcheinandergebracht und strapaziert. Ein normaler Alltag ist kaum noch möglich. Das liegt auch an Corona, aber vor allem an diesem Anschlag. Wir haben viel über unsere Sicherheit gesprochen, in den ersten Monaten, praktisch bis zum Lockdown, ging es an jedem Sabbat um das Thema. Die Menschen wussten nicht, ob sie sich trauen können, in die zu kommen. Es ist mittlerweile ein bisschen besser geworden. Wir haben auch Hoffnung, dass langsam Ruhe einkehrt und die Gemeindemitglieder wieder nach vorne blicken können. Viele Menschen haben ihre Anteilnahme bekundet, es gab Anfragen von Journalisten. Aber ständig gefragt zu werden: Wie war das für euch, wie geht es euch? - das wühlt die Menschen auch immer wieder auf.
ZEIT ONLINE: Fühlen Sie sich in der Synagoge sicher?
R. Portnoy: Wir können beruhigt hingehen. Die ist ständig präsent von zwei Seiten, es wurden Videokameras installiert über die gesamte Länge der Mauer. Alle Termine werden sofort an die Polizei übermittelt, damit sie im Minutentakt weiß, was dort passiert.
ZEIT ONLINE: Sie können also ohne Polizeischutz offenbar nicht ihrem Glauben nachgehen. Haben Sie Hoffnung, dass sich das wieder ändert?
R. Portnoy: Das Gefühl von Sicherheit ist weg. Dass Antisemitismus existiert, wussten wir auch vorher, es gab Hassbriefe, Drohungen und Beschimpfungen. Aber dass es dann wirklich passiert, mit Waffen und Sprengsätzen, und zwar nicht in oder München, sondern im kleinen Halle, das hat uns schockiert. Ohne Polizeischutz würden besonders Familien mit Kindern möglicherweise nicht mehr in die Synagoge kommen.
ZEIT ONLINE: Heißt das, in einer Großstadt hätten Sie sich Gewalt in diesem Ausmaß vorstellen können?
R. Portnoy: In Berlin gab es ja schon Vorfälle. Nur ein paar Wochen vor dem Attentat in Halle hat ein Mann versucht, mit einem Messer in eine Synagoge einzudringen. Er wurde von den Sicherheitsleuten gestoppt. In Berlin ist der Polizeischutz für jüdische Einrichtungen hoch. Es gibt aber viele Verrückte in Großstädten.
ZEIT ONLINE: Sie klingen resigniert. Trägt der Staat in Ihren Augen eine Mitverantwortung, weil er die Gemeinde nicht ausreichend geschützt hat?
R. Portnoy: Vor ein paar Jahren war die Polizei regelmäßig vor Ort. Aber dann hielten sie es nicht mehr für notwendig. Wenn dort eine Polizeistreife gestanden hätte, hätte der Anschlag verhindert werden können, weil für den Täter der Aufwand zu hoch gewesen wäre. Jetzt werden im ganzen Land die Gemeinden geschützt. Die Frage ist: wie lange? Wird unser Schutz, wenn es ein, zwei Jahre ruhig bleibt, wieder weniger ernst genommen?
ZEIT ONLINE: Wird der Anschlag Thema Ihrer Gebete und Ansprachen werden?
R. Portnoy: Nein, ich werde das Thema nicht aufbringen. Ich werde an dem Tag in sein, der anderen Gemeinde, in der ich tätig bin. Ich fahre aber schon vorher am Schabbat nach Halle. Einige der Gemeindemitglieder haben gerade als Zeugen im Prozess ausgesagt, die müssen sich auch mal auf andere Sachen konzentrieren können, zur Ruhe kommen.