Ein Bremer Portal hilft beim Offline bleiben.
Die Zeitung wird auf dem Tablet gelesen, Sport mithilfe einer App auf dem Smartphone getrieben und Einkäufe werden am Computer erledigt. Das Verhalten vieler Verbraucher ist zusehends von der Digitalisierung bestimmt. Doch der alltägliche Konsum zeigt vermehrt seine Schattenseiten: Immer mehr Zeit verbringen Menschen mit dem Blick auf ihr Smartphone, während der direkte Kontakt zu schwinden scheint. Dabei haben sich auch die Anforderungen an soziale Kontakte im digitalen Zeitalter verändert. So werden inzwischen auch soziale Netzwerke dazu genutzt, um die Verbraucher in die analoge Welt zurückzuholen.
Das Problem ist nicht neu: Die Menschen verbringen viel Zeit im Internet. Dazu gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Verweil- und Nutzungsdauer im Netz beschäftigen. So hatte die Postbank 2016 herausgefunden, dass von allen deutschen Bundesländern die Bremer besonders viel im Internet unterwegs sind - 52,5 Stunden sollen es jede Woche sein, acht Stunden mehr als der bundesdeutsche Durchschnitt.
Ein analoges Leben ist kaum vorstellbarDer D21-Digital-Index 2016 zeigt, dass die Deutschen täglich zwei Stunden und 42 Minuten an irgendeinem Bildschirm verbringen. Bei jungen Nutzern zwischen 20 und 29 Jahren sind es mehr als vier Stunden, bei den 14- bis 19-Jährigen knapp sechs Stunden. Ein analoges Leben können sich viele gar nicht mehr vorstellen: Ein Viertel der Befragten glaubt, dass es negative Auswirkungen auf ihr Leben hätte, wenn es morgen kein Internet mehr gäbe. Vor allem, weil sich Gespräche ins Netz verlagert haben. Über die Hälfte der Befragten nutzt sogenannte Messenger-Dienste wie Whatsapp. Bei den Jugendlichen sind es sogar 97 Prozent.
Auch Kinder sind laut einer Bitkom-Studie sehr aktiv im Netz: Vier Fünftel der Acht- und Neunjährigen sind täglich 43 Minuten online. Die Zeit hat sich fast verdreifacht - 2014 war es noch eine Viertelstunde. Viele von ihnen besitzen außerdem ein eigenes Smartphone. Somit sind inzwischen auch die jüngsten Nutzer voll in digitale und mediale Routinen integriert. Die erste Generation der sogenannten Digital Natives, also mit digitalen Medien sozialisierten Menschen, ist bereits zwischen 20 und 30 Jahren alt. Und die Unterschiede zwischen den Generationen schrumpfen zusehends. Ein Alltag ohne Internet? Für viele undenkbar.
Freizeitspaß InternetDie Verbraucher nutzen das Internet nämlich nicht nur für praktische Erledigungen, sondern auch zum Spaß. Das zeigt der Freizeitmonitor der Stiftung für Zukunftsfragen. In einem Fünf-Jahres-Vergleich ernennen die Macher darin die Gewinner und Verlierer der beliebtesten Freizeitaktivitäten. Seit 2011 haben die Medien eindeutig die Oberhand gewonnen: Drei Viertel der Befragten nennen Internetnutzung eine regelmäßige Freizeitaktivität, die Hälfte hört Musik. Dahinter folgen Fitnessstudiobesuche oder Fahrradfahren. Für keine dieser Aktivitäten braucht man einen Partner. Das heißt: Der Trend geht zum Alleinsein.
Das zeigt auch die entsprechende Verliererliste. Nur noch 17,3 Prozent treffen einmal pro Woche Freunde und Bekannte zu Hause, 16,6 Prozent unternehmen etwas mit ihnen. Die meisten dieser typischen sozialen Aktivitäten haben laut der Stiftung für Zukunftsfragen in den vergangenen fünf Jahren abgenommen. „Viele Bürger würden gern häufiger in Ruhe auf dem Sofa lesen, sich mit Freunden treffen oder mehr Zeit für die Familie haben. Jedoch sind sie zunehmend Getriebene in ihrer eigenen Freizeit, wollen sie doch alles erleben und nichts verpassen", sagt Stiftungsleiter Ulrich Reinhard.
Tatsächlich ist das Problem vielen bewusst, wie Zahlen aus dem Digital-Index belegen. Ein Drittel gibt zu, dass sie meist länger im Internet sind, als sie eigentlich vorhatten. Jeder Vierte will sich vornehmen, in Zukunft öfter bewusst offline zu bleiben. Aber das ist nicht einfach: Am Arbeitsplatz und auch in der Freizeit ständig erreichbar und vernetzt zu sein, gehört inzwischen zu unserem Alltag.
Digitaler DetoxDeswegen ist das bewusste Abschalten auch eine individuelle Entscheidung, sagt Christian Petzold vom Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (Zemki) in Bremen. Trotzdem gilt dieser Entschluss meist nicht nur für die Nutzer selbst. „Die Entscheidung, den Schritt zu tun, betrifft viele verschiedene Bereiche", sagt er. Denn wer einen digitalen Detox einlegt oder das Smartphone in den Flugmodus schaltet, kappt automatisch den Kontakt zu Freunden, Familie und Kollegen.
Das Internet sei für viele sogar wichtig, um sich genau diese internetfreien Zonen zu schaffen, sagt Petzold. Denn: Auch unsere Offlinezeit ist inzwischen von Medien abhängig. Das klingt verwirrend, ist aber überraschend plausibel. Wer in den Urlaub fährt oder ein Sabbatical einlegt, verändert zwar seinen Tagesablauf. Aber sein mediales Verhalten bleibt oft gleich. So teilen viele Menschen weiterhin ihre Eindrücke und Erfahrungen in sozialen Netzwerken, sagt Petzold. Wer zum Beispiel am entlegensten Ort der Welt in den Bergen umherwandert, teilt danach oft ein Foto von seinem Offline-Abenteuer. Zwar hat der Nutzer den Computer zu Hause gelassen, aber die sogenannte Quality Time wird mit dem Smartphone und der entsprechenden Verschlagwortung geteilt.
Doch wirkt sich unsere Internetaffinität so nicht auch negativ auf die Gesundheit oder unsere sozialen Kontakte aus? Das könne man nicht verallgemeinern, sagt der Forscher: „Das Netz ist keine große Maschine, die alle vereinzelt." Natürlich gebe es pathologische und medizinische Risiken, wenn Verbraucher ständig online sind. Auch zwischenmenschliche Beziehungen könnten unter der Internetnutzung leiden. Gleichzeitig hülfen soziale Netzwerke vielen Menschen, gemeinsame Interessen zu finden und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Viele Verbraucher gehen sogar davon aus, dass der Kontakt mit anderen Menschen durch soziale Medien erleichtert wird.
Schnell wieder ins AnalogeGenau das ist auch das Konzept eines Bremers, der jetzt mit einem Internetportal versucht, die Nutzer in die analoge Welt zurückzuholen. Jan Wolf ist Masterstudent in Bremen, er hat sich auf digitale Medien spezialisiert. Der 26-Jährige untersucht in seiner Abschlussarbeit, wie die Digitalisierung unser Freizeitverhalten beeinflusst. Deshalb hat er Rudl entwickelt. In dem sozialen Netzwerk gibt es keine Newsfeeds oder eigene Profilseiten. Wer sich hier anmeldet, soll sich eigentlich schnell wieder abmelden. Dafür können sich die Nutzer von rudl.me in entsprechenden Rudeln zusammenfinden, wenn sie gemeinsame Interessen haben. Dann können sogenannte Streifzügen wie ein Ausflug in den Park geplant werden. Nur für die Vorbereitungen sind Chats bei Rudl erlaubt. Alles andere soll offline geschehen.
Für Wolf ist entscheidend, wie wenig Mediennutzer ihre gewonnene Zeit auskosten: Durch das Internet können viele Dinge schneller erledigt werden. Allerdings werde die eingesparte Zeit oft genutzt, um noch mehr Zeit im Netz zu verbringen, sagt Wolf. Das löse bei vielen regelrecht Stress aus. Durch die gewonnene Zeit versuchen sie, immer mehr Dinge zu tun. Und weil sie ständig erreichbar sind, setzen sie sich selbst unter Druck. „Die Digitalisierung ist sehr vereinnahmend", sagt Wolf.
Das Problem sei nicht neu, sagt er. Die Digitalisierung habe einen ähnlichen Effekt auf die Menschen wie zu Beginn die Uhr. Durch die allgegenwärtige Zeitanzeige in Fabriken seien die Menschen zusehends gestresst gewesen. Genauso sei es, wenn Verbraucher immer auf verschiedenen Kanälen erreichbar seien. Das führe so weit, dass man sich regelrecht rechtfertigen müsse, wenn Nachrichten nicht in kürzester Zeit beantwortet werden. „Man darf einfach auch mal nicht erreichbar sein", sagt Wolf.
Seit einem knappen Monat läuft Rudl, bis vorerst Mitte September will Wolf das Portal betreiben und dann das Nutzerverhalten auswerten. Knapp 120 Menschen haben sich bereits angemeldet. „Ich wünsche mir, dass die Leute ihre Online-Zeit zugunsten der Offline-Zeit verkürzen", sagt er. Was Wolf mit Rudl entworfen hat, sei ein bisher einmaliges Konzept, sagt Zemki-Forscher Petzold. Denn die Entscheidung, offline zu gehen, wird damit nicht mehr allein getroffen, sondern bewusst gemeinsam geplant. Aber am Ende, sagt Petzold, sei der einzelne Nutzer entscheidend: Wer genügend Medienkompetenz mitbringe, wisse ohnehin, wann er abschalten muss.