Es ist Montagmorgen, der 15. Juni 2009 und ich habe einen Termin am Potsdamer Platz. Ich nutze die Gelegenheit, am Martin-Gropius-Bau vorbei zu spazieren, und mich über das aktuelle Programm zu informieren. Vor dem Museum weisen zwei großformatige Plakate auf die aktuellen Fotoausstellungen hin: Hannes Kilian, Fotografien und daneben Woman with a camera: Liselotte Grschebina, Germany 1908- Israel 1994. Das Plakat sowie die Flyer zur Kilian-Ausstellung zeigen eine seiner schwarzweißen Architektur-Fotografien: einen Turm mit gläserner Wendeltreppe[1] sowie den Namen des Fotografen in großen gelben Lettern.
Retrospektiven wie diese gehören zum Standardprogramm im Martin-Gropius-Bau, zuletzt wurden u.a. gezeigt[2]:
Robert Lebeck - Fotografien 1955-2005 ( November 2008 - 23. März 2009) Richard Avedon - Fotografien 1946-2004 ( Oktober 2008 - 19. Januar 2009)
Ähnlich dieser vorhergehenden Ausstellungen ist die Aufmachung oder „Vermarktung" der Hannes Kilian-Werkschau konzipiert: man hat eines seiner bekannteren Bilder ausgewählt und sich bei der Wahl des Ausstellungstitels auf den Namen des Künstlers beschränkt. Die Kuratoren gehen also davon aus, dass dem durchschnittlichen Museumsbesucher der Künstler bekannt ist. Mir war Hannes Kilian bisher kein Begriff (Im Gegensatz zu Lebeck und Avedon) und ich freue mich, die Ausstellung ohne Vorwissen, und damit unvorbelastet, zu besuchen.
Das Plakat zur Grschebina-Ausstellung interessiert, irritiert mich aber auch mehr: Es zeigt, ebenfalls in schwarzweiß, das Portrait einer jungen Frau[3]. Sie liegt auf dem Rücken, ihr Gesicht, hauptsächlich aber das volle, zu allen Seiten fallende Haar, füllen das Bild ganz aus. Sie fixiert mit ernstem Gesichtsausdruck einen Punkt, der direkt unterhalb des Kameraobjektivs gelegen haben muss, was dem Betrachter das seltsame Gefühl gibt, angesehen zu werden, ohne gesehen zu sein.
Im zweiten Stock des Gropius-Baus zahle ich den ermäßigten Preis von vier Euro für die Kilian-Ausstellung bevor ich einige Meter weiter an einem Hinweisschild vorbei komme, das auf die Grschebina-Werkschau mit den Worten hinweist: Hier geht's zur „kostenlosen Ausstellung"...
Hannes Kilian, „ professioneller Fotograf mit eigenständiger und unverwechselbarer Sicht auf die Welt"[4]Die Retrospektive der Arbeiten von Hannes Kilian, Jahrgang 1909, ist auf mehrere Räume angelegt, die mehr oder weniger thematisch geordnet sind und neben dem Lebenslauf des Künstlers auch Erklärungen zum Zeitgeschehen und Begleittexte den Fotografien gegenüber stellen. Kilian wird als „Berufsfotograf" vorgestellt, der „die Technik in allen ihren professionellen Anwendungsmöglichkeiten" erlernt hat. Er betreibe „bildmäßige Fotografie", aber eben auch serielle, essayistische Arbeit. Neben dem Titel und Entstehungsjahr der Aufnahmen ist immer auch der Bildträger benannt (in diesem Falle handelt es sich fast ausschließlich um Silbergelatineabzüge, also „echte" analoge Entwicklung), was vermutlich zur Aura des Originals der ausgesuchten Fotografien beitragen soll.
Im ersten Raum der Ausstellung ist kein klares Konzept der Zusammenstellung zu erkennen, es finden sich aber auffallend viele Portraits von Menschen, denen ich keine besondere Gemeinsamkeit oder Qualität entnehmen kann. Es ist aber wichtig, WER hier zu sehen ist und somit fasse ich die Auswahl der Bilder als eine Art Zeitzeugnis auf: Eine der ersten Aufnahmen zeigt zum Beispiel Gina Lollobrigada, weiter gesellen sich zur Reihe der Bekanntschaften und Modelle im Dunstkreis um Hannes Kilian: Giulietta Masina, Hans King, Adolph Wohlbrück, Hans Werner Menze, Thomas Mann, Walter Jens und Otto Dix. Auf der Suche nach dem „besonderen Klima", der „speziellen Ästhetik", das der Programmflyer zur Kilian-Ausstellung seinen Arbeiten zuspricht, stelle ich fest, dass tatsächlich die meisten seiner Bilder ein besonderes Element der Stille enthalten.
Der Horizont liegt oft sehr tief, die Bilder enthalten kaum Unschärfe, der Bildausschnitt ist präzise gewählt. Die Kamera hält Kilian tief, was auf ein Modell mit Lichtschacht schließen lässt. Er zeigt oft das Monumentale, klare Linien, lange Schatten, kleine Menschen vor großer Fläche und gelegentlich auch Paare in malerischer Szenerie. Der Fokus seiner Fotografien liegt laut Begleittext in „Leben, Kultur, Menschen, Besonderheiten..." Sie sollen zeigen, „wie es in Italien, Deutschland, Spanien... gewesen ist, ehe der Massentourismus sie überzieht...". Es sind aber auch nicht wenige Arbeiten zu sehen, die Architektur zeigen, Straßenzüge oder sehr abstraktes. Auch finden sich einige Postkartenmotive wie zum Beispiel der Eiffelturm hinter dunklen Baumzweigen.
Kilians Fotografien: „einzigartig, außergewöhnlich und unerreicht"Im Kontext verschiedener illustrierter Artikel, die ebenfalls ausgestellt wurden, wird mir der Zusammenhang einiger Aufnahmen bewusster und ich stelle abschließend fest, dass ich die Qualität der Hannes Kilian Fotografien überzeugend finde: es handelt sich um gute, professionelle, aber eben auch zweckgerichtete Bilder, Auftragsarbeiten. Nicht nachvollziehen hingegen kann ich den Ausstellungstext, der sie mir als „einzigartig, außergewöhnlich und unerreicht" anpreisen will. Viele der Arbeiten aus den 1970ern könnten durchaus auch Urlaubsfotografien sein, sie weisen mehr Unschärfe auf und sind weniger präzise in der Auswahl. So zeigt eine Aufnahme „Gebirgszüge der Wüste Judäa" mit einem Rückspiegel und halbem Steuerrad an den Bildrändern.
Kilian versucht sich nun auch vorsichtig an Farbbildern. Sie sind oft sehr abstrakt, haben keine zu grellen Farben, sondern dezente und matte, monochromatische Töne und sind insgesamt sehr harmonisch. Hier zeigt sich, wie sich die Technik der Schwarzweißfotografie mit ihren klaren Kontrasten und harmonischen hell-dunkel Übergängen eines erfahrenen, professionellen Fotografen elegant in Farbe umsetzt. Der Begleittext in diesem Raum erklärt mir: der „ Klang der Moderne übertönt die Poesie der eingeschliffenen Phantasmagorien", was ich so nicht bestätigen kann und die Wortwahl für unangemessen pathetisch halte.
Umgekehrt verhält es sich in dem Ausstellungsraum, der das zerstörte Stuttgart 44 zeigt. Der Text beschreibt die Aufnahmen, die Kilian entgegen des Verbots machen musste als „unsentimental, nüchtern und gerade dadurch packend". Ich sehe hier allerdings Menschen, wie sie sich zu dieser Zeit eben fotografieren liessen, mit ernstem Blick, teils müden bis ausgezehrten Gesichtern. Sie zeigen den einsamen Kriegsheimkehrer auf einem Bein und mit Akkordeon, Liebespaare, den deutschen Soldat, der aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrt. Abgesehen von einer einzigen Fotografie einer umgestürzten Statue kann ich Kilians Bildern wenig Symbolcharakter entnehmen. Ich verstehe sie erneut als Zeitzeugnis: einen durchaus mitfühlenden Blick auf Menschen bei ihrer Arbeit in der zerstörten, kargen Umgebung. Bei dieser Serie finden sich nun auch vermehrt Aufnahmen von oben, um einen besseren Überblick über die Lage geben zu können.
Dicke Männer mit dicken Zigarren, wie Ludwig Erhard, die eigentlich schon vor dem Wirtschaftswunder dick waren.Im letzten Raum betrachte ich Fotografien und die dazugehörige Erklärung zur Währungsreform : „Kilians Bilder schlagen kritischere Töne an. Sie öffnen den Blick auf Zusammenhänge, die erst in den 70er Jahren das öffentliche Bewusstsein erreichten, auf die Auswirkungen ungehemmten Wirtschaftswachstums auf Mensch und Umwelt." Auf der Suche nach den kritischen Tönen begegnen mir Aufnahmen, die zeigen, wie ein junger Banker Papiergeld in den Büromüll fallen lässt, sie zeigen Frauen vor dem Lebensmittelgeschäft, Anschläge zur Währungsumstellung oder auch mal einen Löwenzahn neben der von Kilian so oft gewählten, perspektivischen Straßenansicht. Es ist das „Fresswelle"-Buffet zu sehen, dicke Männer mit dicken Zigarren, wie Ludwig Erhard, die eigentlich schon vor dem Wirtschaftswunder dick waren. „Der letzte Fußgänger" zeigt Industrie, Verkehr und Neubauten. Hannes Kilian hat sich seine Bildsprache durch die deutsche Geschichte hindurch erhalten.
„Frau mit Kamera": Liselotte Grschebina, Germany 1908 - Israel 1994Ganz plötzlich geht die Ausstellung einfach so zur Liselotte Grschebina Werkschau über, die Schwelle nur von Sicherheitspersonal bewacht, und ich befinde mich in einem Raum mit deutlich wärmerem Licht. Mir fällt zum ersten Mal das hölzerne Parkett in diesem Stockwerk auf und ich gehe noch einmal zurück, um mich zu vergewissern, dass der Boden tatsächlich durchgängig verlegt ist. Es sind nicht nur die Glüh- statt Leuchtstofflampen, die hier für eine wärmere Atmosphäre sorgen: Während Kilians großformatige Bilder in kontrastreichem schwarzweiß gehalten sind und in feinen silbernen Rahmen mit ausreichend Abstand zueinander platziert sind, reihen sich in diesem Raum kleine Fotografien in Sepia-Tönen und dicken braunen Holzrahmen dicht an dicht. Auch Grschebinas Bilder sind Originalabzüge, was besonders daran deutlich wird, dass die Fotografin in einigen Fällen die Bildränder mit der Schere beschnitten oder Motive von ihrem Hintergrund frei gestellt hat.
Die frühen Aufnahmen Grschebinas erscheinen mir als Experimente, die hell/dunkel Abstimmung ist nicht so perfekt wie die der zuvor gesehenen Kilian-Aufnahmen. Es sind oftmals Collagen, Stilleben aus einfachen Alltagsgegenständen drapiert. Sie fotografiert auffallend viele Frauen, jüdische Themen, Symbole, aber auch die Industriearbeit in Landwirtschaftsbetrieben. Zum Teil sind es Auftragsarbeiten für die WIZO oder Werbefotografie; Grschebina wurde professionell ausgebildet (genau wie Kilian) und ihre Arbeiten früh veröffentlicht... Umso mehr ärgere ich mich erneut über die Worte „Woman with a camera" an der Museumswand. Vor meinem Besuch, beim Betrachten des Ausstellungsplakats, bin ich davon ausgegangen, dass die junge Frau mit nackten Schultern, vollem Haar und verklärtem Blick wahrscheinlich die Frau mit Kamera ist. Ich hatte bei diesem Titel vielleicht an eine Frau gedacht, die sich immer wieder selbst fotografiert, aber sicher nicht an eine Berufsfotografin.
Spätestens die Grschebina Fotografien aus ihrer Zeit in Tel Aviv stehen denen von Hannes Kilian in nichts mehr nach! Sie beginnt nun verstärkt, Architektur zu fotografieren und beweist einen Blick für dynamische Linien und Kontraste, zeigt oft den Mensch, wie er sich in seiner Größe oder farblichem Kontrast vom Hintergrund abhebt. Ich muss lachen, als mir eine Aufnahme von einem Platz in Rhodos von 1962 begegnet, die Kilian aus fast derselben Perspektive gemacht hat. Die Fotografien von Leichtathleten und Turnern sind allesamt sehr ausdrucksstark und gefallen mir besser als die Kilian-Aufnahmen vom Stuttgarter Staatsballett.
Lebenslauf und Begleittext zur Grschebina-Ausstellung im nächsten und letzten Raum erklären mir, dass ihr Werk „zufällig im Wandschrank in Tel Aviv entdeckt" worden ist und andernfalls wohl in Vergessenheit geraten wäre. Es handelt sich um Leihgaben des Israel-Museums in Jerusalem, die Ausstellung wurde von Yudit Kaplan kuratiert. Grschebina gehört zu den Vertretern der „Neuen Sachlichkeit", ausgebildet an der Badischen Landeskunstschule Karlsruhe, wo sie auch unterrichtete. Diesen Stil des „Neuen Sehens" behält sie sich auch in Palästina bei. Über den Blickwinkel, scharfe Diagonalen, Spiegelungen, Licht- und Schattenspiele schafft sie Atmosphäre und Anziehungskraft. Die Menschen, die sie „mit klarem, unvoreingenommenen Blick betrachtend" ablichtet, scheinen sich tatsächlich durch die Präsenz der Kamera nicht gestört oder beobachtet zu fühlen, was vielleicht daran liegt, dass eine Frau sie auf sie gerichtet hielt. Vielleicht soll dies auch der Sinn des Ausstellungstitels sein.
Abschlussanalyse des AusstellungskonzeptesMit einem Zitat von Lazlo Moholy-Nagy im Kopf, das die Liselotte Grschebina Ausstellung beschließt, verlasse ich den Martin Gropius Bau. Ihre Bilder seien „objektive Portraits... unbelastet von subjektiver Intervention". Ich schlage nochmal den Hannes Kilian Flyer auf und vergewissere mich, dass ich den ersten Satz zu dessen Werk richtig in Erinnerung habe: „Nur wenigen professionellen Fotografen ist es gelungen, eine eigenständige und unverwechselbare Sicht auf die Welt zu vermitteln." Also wird der professionelle Fotograf dafür gelobt, einen eigenen Blick, eine eigene Meinung und Darstellung der Dinge zu haben, die Frau mit Kamera hingegen dafür, diese außen vor zu lassen?
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, eine Ausstellung ohne Vorwissen zu besuchen, um besser beurteilen zu können, wie deren Konzeption auf den Besucher wirkt, welche Eindrücke und Informationen besonders in Erinnerung bleiben. Auch habe ich mich im Nachhinein nicht über Sponsoren und Umstände der Ausstellungsrealisierung informiert. Ich bemühe mich, die auffallend unterschiedliche Umsetzung der Lebenswerke der Zeitgenossen nicht aus einem feministisch- kulturwissenschaftlichen Zusammenhang heraus zu verurteilen und von den Entscheidungen der Kuratoren auf deren Absicht zu schließen, ein bestimmtes Frauenbild zu festigen. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Verantwortlichen hier schlicht unüberlegt und von immanenten Vorstellungen und Konzepten beeinflusst entschieden haben. [5]
Ich habe wie bei jedem meiner Besuche im Martin-Gropius-Bau einen Eintrag ins Gästebuch hinterlassen und bin durchaus gespannt, ob ich eines Tages eine Reaktion erfahre.
[1] „Lichtturm des Pavillon de la Marine Marchande", Weltausstellung, Paris 1937 © Hannes Kilian
[3] Hilde Billigheimer, 1934
[4] Alle im Folgenden zitierten Informationen, Texte, Kommentare zu den Ausstellungen entstammen den Programmflyern oder sind als Begleittexte zu den Fotografien im Martin-Gropius-Bau nachzulesen.
[5] Wie auch zuletzt bei der Ausstellung „Die Tropen" im Januar: Hier waren (nach gängigem minimalistischen white cube konzept) vor großformatigen Leinwänden mit 15-30 minütigen Videos einzelne schlichte Bänke installiert, auf denen maximal zwei Besucher Platz fanden. Das auf den Boden setzen ist aber von der Hausordung ausdrücklich verboten und wurde von dem augenscheinlich gelangweilten Personal durchaus auch durchgesetzt.