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Georgien: Russische Kunst im Exil

Hunderttausende Russinnen und Russen zogen nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs ins benachbarte Georgien, darunter etliche Kreative. Doch sie stoßen auf Ablehnung

Ein Saal voll blonder Köpfe, der Kellner rauscht von einem Tisch zum nächsten, serviert Gläser mit Wein. „Letzte Runde, bevor die Vorstellung beginnt", erklärt er, und deutet auf die Speisekarte. Er spricht russisch. So wie alle hier im Raum.

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„Wer auch immer ‚Ruzians go home' an die Wände malt, kann kein Englisch", witzelt Dmitri, ein junger Kabarettist aus Moskau, auf der Bühne. „Mit Z? Es muss beim KGB Graffiti-Sprayer geben, die uns zum Militär einziehen wollen!" Schallendes Gelächter im Publikum.

Im Bukhari Stand-up Club in Tiflis trifft sich die russische Diaspora. Der Schriftzug „Ruzians go home" ziert eine Bauruine gleich nebenan, sowie etliche Häuser und Mauern in der ganzen Stadt. Nach Dmitri wird eine Transfrau die Bühne betreten, später ein junger Mann aus Sibirien. Sie alle sind wegen des Ukraine-Kriegs in die georgische Hauptstadt emigriert. Manche üben auf der Bühne offene Kritik am Putin-Regime.

Georgien ist so groß wie Bayern, mit eigener Sprache und kunstvoll geschnörkelter Schrift. 3,8 Millionen Einwohner, malerische Berge und Strand am Schwarzen Meer. Einst nannte man Georgien das „Italien der Sowjetunion", ein Urlaubsland mit guter Küche und ausgeprägter Gastfreundschaft. Heute ist Georgien ein attraktives Exil.

Russland kommt seine Intelligenzija abhanden. Oppositionelle und Künstler verließen das Land bereits vor dem Kriegsausbruch, der einen regelrechten Exodus auslöste. Seit dem Februar 2022 kamen 150.000 Menschen nach Georgien. Knapp zwei Jahre später ist die Dunkelziffer mindestens doppelt so hoch.

Doch die Exilanten werden nicht mit offenen Armen empfangen. Aus gutem Grund: Die Russen sind reich, sie treiben die Preise in die Höhe. Mietwohnungen in Tiflis kosten nun dreimal so viel wie vorher, Lebensmittel ebenso. Laut einer Umfrage von 2023 lehnen 80 Prozent der georgischen Bevölkerung die Migranten ab.

Der Bukhari Stand-up Club liegt am Wera-Hügel, ein Viertel mit Shabby Chic, unweit der Altstadt. Neu eröffnete Vintage-Läden, Kunstgalerien und Coffeeshops reihen sich in den kleinen Gassenlokalen aneinander. In den letzten zwei Jahren ist in Wera eine kleine Parallelgesellschaft entstanden: jung, kreativ - und russisch.

Der russische Künstler Alex Garikovich vor zweien seiner Werke (Foto: Alex Garikovich)

Zum Beispiel die Jazz Union, ein neues Kellerlokal in einer Seitengasse des mächtigen Rustaweli-Boulevards. Der 31-jährige Feofil tritt hier regelmäßig als Improvisationskünstler auf, er am Schlagzeug, ein Freund am Klavier. Zwei Stunden lang spielen die beiden Free Jazz, der Saal ist voll, russisches Gemurmel untermalt die Musik.

Warum nur Landsleute zu seinem Auftritt kommen? Feofil zuckt mit den Schultern. „Die Russophobie in Georgien ist ein Fakt", sagt er. „In einem Restaurant war zum Beispiel ein Zettel, auf dem stand: ‚Alle Russen sind Kriegsverbrecher'. Das hat mich schockiert."

Freiwillig hätte Feofil seine Heimatstadt St. Petersburg nicht verlassen. Feofil ging nach Tiflis, um dem Militärdienst zu entgehen, nach der Mobilmachung im September 2022. Er entstammt einer Intellektuellenfamilie, beide Eltern arbeiten an der Universität. Einige seiner Freunde waren bereits in Georgien, die Wahl fiel ihm leicht. In der russischen Künstlerszene in Tiflis ist Feofil gut vernetzt, der Musiker möchte hier seine Karriere aufbauen. „Selbst wenn ich Georgier einladen würde, kämen sie nicht. Sie haben Angst."

Die meisten russischen Exilanten wissen gar nicht, dass es in Georgien 2008 einen Krieg gab. Oder dass sie sich nicht mehr in Russland befinden

Am Fuße des Hügels beherbergt ein zerfallendes Gründerzeitgebäude das „Sovlab", ein Forschungszentrum zu sowjetischer Geschichte. Irakli Khvadagiani, Politikwissenschaftler und Kaukasus-Forscher, sitzt hinter einem Berg von Büchern. Ein wandgroßes Bild in Gelb und Blau, den Farben der Ukraine, hängt in seinem Büro. Er warnt: „Diese russischen Cafés sind mehr als nur Cafés. Das ist schleichende Kolonisierung."

Khvadagiani untersucht das georgisch-russische Verhältnis, in der Zeit der Sowjetunion und heute. Es sei egal, ob die Zuwanderer politisch gegen Putin eingestellt sind oder nicht. De facto sind sie eine Gefahr. „Falls Putin in Georgien einfallen möchte, kann er ganz einfach sagen, er müsse ‚seine' Bürger schützen", sagt Khvadagiani. „Dieses Argument ist ein traditionelles Mittel russischer Außenpolitik."

Khvadagiani weiß, wovon er spricht. Nicht nur in der Ukraine brüstete sich Präsident Wladimir Putin damit, die russischsprachige Bevölkerung vor „Nazis" zu retten. Auch Georgien ist ein gebranntes Kind. Im Jahr 2008 fielen Truppen aus Moskau in den separatistischen Gebieten Südossetien und Abchasien ein: „Damals schob man das Wohl russischer Bürger vor." Nach fünf Tagen Krieg und 850 Toten erklärte Russland die Landesteile zu autonomen Republiken. Bis heute besetzt so der Nachbar 20 Prozent der Fläche Georgiens.

Jetzt fürchtet die Kaukasusrepublik, in den Ukraine-Krieg hineingezogen zu werden. Erst vor wenigen Tagen kündigte der Kreml an, seine Schwarzmeerflotte in Abchasien - das immer noch zu Georgien gehört - zu stationieren. Dass Abchasien sowohl an Russland als auch ans Schwarze Meer grenzt, kommt Putin zupass. Denn die Ukraine wird sich hüten, einen Militärstützpunkt auf - völkerrechtlich gesehen - georgischem Gebiet anzugreifen. Und so kann Moskau Tiflis drohen.

Georgien hat 3,8 Millionen Einwohner. Bis zu 300.000 russische Migranten kamen seit 2022 dazu (Grafik: APA)

Tiflis, auf Georgisch auch Tbilisi, liegt charmant eingebettet zwischen zwei kleinen Bergen. Ein Vergnügungspark mit Riesenrad thront über der Stadt, im Tal fließt die Kura. Den Fluss säumen zwei permanent verstopfte Autostraßen und etliche Bauruinen, die sich spätnachts in Techno-Clubs verwandeln. Ähnlich wie Berlin ist Tiflis berühmt für sein Nachtleben und seine Raves. DJs reisen aus der ganzen Welt an, um in einem der Underground-Clubs zu spielen. Die urbane Szene ist reich an Vernissagen, Museen und versteckten Bars.

„Georgien ist ein sehr kreatives Land, sehr offen zu Künstlern", sagt Alex Garikovich, Maler aus Moskau, blond, verstrubbelte Haare. Für Künstlerinnen und Künstler sei Tiflis deshalb ein attraktives Ziel. „Meine älteren Kinder lebten in Kiew, ich in Russland. Als sie mich am 24. Februar 2022 anriefen und erzählten, dass Bomben fallen, war das der schlimmste Moment meines Lebens." Die Familie beschloss, gemeinsam nach Georgien zu gehen.

Garikovich gab vor kurzem sein Ausstellungsdebüt in der U-Gallery, einem kleinen Kunstraum mit Wänden aus Backstein, unweit des Flussufers. Auch diese Galerie eröffneten Exilanten erst vor einigen Monaten, über dem Eingang prangt eine Ukraine-Flagge. Die Betreiber schenken an der Bar Alkohol aus.

Garikovichs Bilder sind düster. Putins Mund taucht unverkennbar auf, gefesselte Hände, verklebte Münder. Es sind Werke mit politischer Botschaft.

„Ich sehe es nicht als Pflicht, den Krieg in meine Kunst zu verweben", erklärt Garikovich. „Aber ich sorge mich um alle, die in Russland bleiben, um politische Gefangene und Kollegen. Und um die Ukrainer. Diesen Schmerz möchte ich in Bilder übersetzen." Thema seiner Ausstellung ist die innere Emigration. Für alle Künstler in autoritären Regimen sei sie die einzige Option, sich innerlich zu distanzieren. Garikovich kennt diesen Zustand selbst. Weil politisches Engagement streng bestraft wird, habe er sich in den inneren Widerstand zurückgezogen. „Dieser Konflikt zwischen innen und außen hat mich nach und nach zerstört."

Nach Georgien kam Garikovich wegen der Kreativszene - und der lockeren Visa-Bestimmungen. Anders als in europäischen Ländern brauchen Russinnen und Russen kein offizielles Dokument, um nach Georgien einreisen und dort ein Jahr lang arbeiten zu können. Wer ein weiteres Jahr ohne behördliche Scherereien möchte, muss nur einmal aus- und wieder einreisen.

Gleich mehrere Zuckerln bekamen die Exilrussen von der georgischen Regierung. Die Bestimmungen für Ein-Personen-Unternehmen etwa - wichtig für IT-Arbeiter und sogenannte digitale Nomaden - wurden stark gelockert. Russen, die von Georgien aus für russische Unternehmen arbeiten, zahlen auch kaum Steuern. Und seit Mai 2023 gibt es sogar wieder Direktflüge zwischen Moskau und Tiflis. Zum ersten Mal seit 2019.

So misstrauisch die Bevölkerung gegenüber dem übermächtigen Nachbarn sein mag, so kuschelbedürftig verhält sich die Politik. Georgiens Regierung möchte zwar offiziell zur EU, gilt aber als illiberal und prorussisch. Dabei betonen Politiker gerne die ökonomischen Abhängigkeiten, aufgrund derer man den Nachbarn nicht verärgern dürfe. Schließlich ist Russland der zweitwichtigste Handelspartner, die meisten Touristen kommen von dort. Westliche Sanktionen zu unterstützen, lehnt Tiflis ab.

Diese offen gelebte Kreml-Hörigkeit hat mit der Übermacht des Oligarchen Bidsina Iwanischwili zu tun. Iwanischwili gründete 2012 die Partei „Georgischer Traum" und ist gleichzeitig der reichste Mann des Landes. Sein Vermögen erwirtschaftete er in Russland in den 1990er-Jahren, mit einer Kreditbank und Rohstoffgeschäften. 2003 kehrte er in seine Heimat zurück und begann Einfluss auf die Politik zu nehmen, 2012 wurde er zum Premierminister gewählt. Heute dirigiert Iwanischwili alle wichtigen Unternehmen und Institutionen des Landes.

Wer mit der Seilbahn zum Tifliser Vergnügungspark hinauffährt, dem springt die Macht dieses Mannes ins Gesicht. Direkt neben der früheren Stadtfestung hat sich Iwanischwili sein eigenes Denkmal gesetzt. Ein Anwesen, das zugleich aussieht wie eine Chemiefabrik und wie der Sitz eines Bösewichts in einem James-Bond-Film. Iwanischwili überblickt die ganze Stadt - und die Stadt blickt zu ihm hinauf. 2012 betrug sein Vermögen laut Forbes 6,4 Milliarden Dollar, das Staatsbudget Georgiens 5,7 Milliarden.

„Unser Land entwickelt sich in eine autokratische Richtung", sagt der Politologe Khvadagiani in seinem Büro in Wera. „Hunderttausende junge Menschen wollen deshalb in den Westen, legal oder illegal. Ihre Plätze werden von Russen eingenommen, die unsere Ökonomie zunehmend übernehmen oder Geld zurück in ihre Heimat bringen." Georgien werde zum Zahnrad im russischen Wirtschaftssystem.

Jahrhundertelang war der Kaukasus Teil des russischen Reiches. Zuerst im Zarenreich, dann in der Sowjetunion. Seine Landsleute waren einem brutalen Imperialismus ausgesetzt, erzählt Khvadagiani: „In den 1930ern wurde eine ganze Generation prowestlicher Menschen umgebracht. Georgien sollte sich als folkloristisches Märchenland begreifen, in dem gerne getanzt und Wein getrunken wird." Hochkultur und Intellekt waren ethnischen Russen vorbehalten. Die Georgier galten dagegen als südlich, exotisch und minderwertig. „Dieser koloniale Blick ist bereits sichtbar in der Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts. Und er ist bis heute derselbe."

Dass sich die Exilrussen isolieren statt integrieren, empfindet die georgische Bevölkerung als Hochmut. Sie würden sich als etwas Besseres sehen, so der Vorwurf, auch jene, die Putin ablehnen. „Die meisten Exilanten wissen gar nicht, dass es hier 2008 einen Krieg gab. Oder dass sie sich nicht mehr in Russland befinden. Vielen fehlt ein Bewusstsein von kollektiver Verantwortung", mahnt Khvadagiani.

Ob man das so pauschalisieren kann? Anna Roumiantseva ist Filmproduzentin aus Moskau. Sie versucht an die georgische Szene anzuknüpfen, kommt zu Premieren und deren Partys. Sie will raus aus der russischen Blase. „Diese Parallelwelt ist witzig", sagt sie und lacht. „Russen machen Kunst für Russen - in Institutionen, die Russen gehören."

Anna Roumiantseva ist Filmproduzentin. Sie flüchtete gemeinsam mit ihrem Mann, der für Alexej Nawalny arbeitete, schon vor dem Ukraine-Krieg nach Tiflis (Foto: Lina Paulitsch)

Sie kenne viele Kollegen, die nichts mehr mit Politik zu tun haben wollen. Die der Auffassung sind, der Krieg sei nicht ihre Angelegenheit, sondern Putins. „Aber wir müssen eine Meinung zum Krieg haben - Gleichgültigkeit hat uns dorthin gebracht, wo wir heute sind", sagt Roumiantseva und nimmt einen Schluck von ihrem Glas Saperavi, dem berühmten georgischen Rotwein.

Zum Mittagessen hat Roumiantseva ein schickes Restaurant am Rustaweli-Boulevard vorgeschlagen. Das Paar am Nachbartisch sei ebenfalls russisch, erklärt sie flüsternd. Die Kellnerin, dunkles, gelocktes Haar, unterhält sich fließend mit ihnen. Das habe sie vermutlich in der Schule gelernt, wie alle Georgier. Deshalb kommt Roumiantseva auch ohne georgisches Alphabet gut zurecht.

„Russen sind sehr tolerant, das kann gut oder schlecht sein. Sie lassen andere in Ruhe. Aber sie würden auch ignorieren, wenn ihr Nachbar gefoltert wird, und sagen: Was geht das mich an?" Ein Verhalten aus Sowjet-Zeiten. Zu viele Menschen seien damals gestorben, ermordet vom eigenen Regime, erklärt Roumiantseva trocken. Wer selbst überleben wollte, tat dies nach dem Grundsatz, dass ein Einzelner ohnehin nichts ausrichten könne.

Irakli Khvadagiani ist Politikwissenschaftler am Sovlab in Tiflis. Er forscht zur imperialistischen Politik Russlands (Foto: Lina Paulitsch)

Roumiantseva kam schon vor dem Krieg nach Tiflis. „Weil wir hier kein Visum brauchten und Georgien damals noch billig war." Ihr Mann arbeitete für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, als Koordinator einer ländlichen Stadt. Als eine Kollegin ins Gefängnis kam, beschloss das Paar zu gehen. Heute ist ihr Mann kaum noch politisch aktiv. Die beiden warten darauf, dass das Regime schwächelt. „Im Ausland ist es schwierig, etwas zu beeinflussen", sagt Roumiantseva. „Was kann man schon tun?"

Einstweilen möchte die Regisseurin ihre Filme bei Festivals einreichen, als georgische Beiträge. Russische Kunst habe gerade schlechte Chancen, akzeptiert zu werden, sagt sie, im Westen jedenfalls. Der Ruf der georgischen Filmindustrie dagegen ist exzellent.

Wenn das Land im Herbst 2024 sein Parlament wählt, werden die Exilanten ein Thema sein. Die Opposition kündigte an, Russen künftig wieder ein Visum abzuverlangen. Außerdem sollen sie keine Immobilien mehr in Georgien kaufen dürfen. Als hysterisch bezeichnete das die Regierungspartei Georgischer Traum.

„Russland behandelt georgische Politiker als Sklaven, die, solange sie loyal sind, gewisse Privilegien genießen", sagt Irakli Khvadagiani. „Im Moment stehen wir an einem Scheideweg. Auf der einen Seite ist Russland, auf der anderen die westliche Demokratie." In einem Zwischenraum: die Russen im Exil.

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