Hannover/Berlin. Seit etwa zehn Jahren gebe es eine „neue Lust am Singen", berichtet der studierte Schulmusiker und Chorleiter Martin Jordan. Diesen Trend beobachtet auch Moritz Puschke, Geschäftsführer des Deutschen Chorverbands in Berlin.
Hannover/Berlin Im Jungen Konzertchor „clazz" aus Hannover ist die Stimmung schon prächtig, bevor die Probe überhaupt beginnt. Es wird umarmt, getratscht und gelacht. Die gute Laune setzt sich fort, wenn Chorleiter Martin Jordan (30) mit seinen rund 40 Sängerinnen und Sängern an Stücken wie „Don't you worry child" oder „Wenn ich ein Vöglein wär" arbeitet. Wer wie Jordan vor 15 Jahren zu den wenigen männlichen Chorsängern auf der Schule gehörte, galt als „Nerd". Das sei heute ganz anders: „Inzwischen ist es cool geworden, im Chor zu singen."
Diesen Trend beobachtet auch Moritz Puschke, Geschäftsführer des Deutschen Chorverbands in Berlin. Seit etwa zehn Jahren gebe es eine „neue Lust am Singen", berichtet der studierte Schulmusiker. Seitdem wüchsen neue Chöre „wie Pilze aus dem Boden", vor allem klassische Ensembles, Kinder- und Jugendchöre sowie Chöre mit dem Schwerpunkt „Vocal Pop".
Zwar nehme in den Verbänden die Zahl der einzelnen Mitglieder ab, die Anzahl der Chöre jedoch steige, hat Wolfgang Schröfel beobachtet, Ehrenpräsident des Niedersächsischen Chorverbands. Er erklärt das Phänomen folgendermaßen: Während das Modell des eher geselligen statt leistungsorientierten Gesangvereins auslaufe, entstünden zunehmend Ensembles mit wenig Sängern und hohem Anspruch.
Chöre auf Zeit und für ProjekteAuch im kirchlichen Umfeld finden sich zunehmend Projektchöre und Chöre auf Zeit zusammen, sagt Sigrun Dehnert-Hammer vom Evangelischen Chorverband Niedersachsen. „Wir beobachten auch, dass sich aus manchen klassischen Kirchenchören, die wegen Überalterung ihre Mitglieder verlieren, ganze neue Formen wie Gospelchöre entwickeln." Insgesamt sei die Begeisterung für das Singen weiter gegeben: „Wir machen eine gute kontinuierliche Arbeit, die besonders dann, wenn sie von hauptamtlichen Kirchenmusikern geleitet wird, auch ein hohes künstlerisches Niveau hat."
Andrea Herrmann (35) singt seit 15 Jahren in Chören, mittlerweile ist sie bei „clazz". „Das Chorsingen bedeutet mir total viel", schwärmt die Biologin. Es mache sie glücklich, gemeinsam mit der Gruppe etwas zu erarbeiten - „und das nur mit der Stimme". Auch als Kontaktbörse für Freundschaften eigne sich ein Chor: „Das schweißt zusammen, wenn man gemeinsam Konzerte erlebt." Das bestätigt Eckart Altenmüller, Direktor des hannoverschen Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin. Für ihn ist Chorsingen eine „fantastische Gemeinschaftstätigkeit". „Ich kann mit meiner Stimme einen großen Eindruck erwirken", erläutert er. Ein wichtiges Erlebnis sei dabei die sogenannte Selbstwirksamkeit, das Selbstvertrauen also, etwas schaffen zu können. Das gemeinsame Atmen verbessere zudem die Gehirnfunktion und sorge dafür, dass Hormone wie Oxytocin (für die Bindung) und Endorphin (für das Wohlbefinden) ausgeschüttet würden.
Neugründungen in GroßstädtenDie meisten neuen Chöre entstehen Moritz Puschke zufolge in Großstädten - insbesondere, wenn es eine Musikhochschule gibt: „Überall dort, wo es gut ausgebildete Chorleiter gibt, verzeichnen wir dieses Wachstum."
Auf die Frage, warum Singen überhaupt so lang als verstaubt und uncool galt, verweist der Geschäftsführer auf die deutsche Geschichte: Die Nationalsozialisten hätten das Singen ideologisiert und missbraucht, sagt er. Auch der Philosoph Theodor W. Adorno (1903-1969) habe Singen als Anbiederung an das Volk abgetan.
„Nicht gerade eine Antriebsfeder", sagt Puschke und lacht. Es habe in Deutschland 60 Jahre der Rückbesinnung gebraucht. „Aber letztlich steckt es im Menschen total drin zu singen." epd