Lengede. Der Tag, an dem ihr Vater bei einem Grubenunglück stirbt, ist Anita Ahrens (81) auch nach 50 Jahren noch präsent. Sie und ihre Mutter warten mit dem Mittagessen, um 14 Uhr ist Feierabend in der Eisenerzgrube im niedersächsischen Lengede, erinnert sich die Seniorin mit den wachen blauen Augen. Doch der damals 56-jährige Bruno Hahn kommt nicht nach Hause. „Meine Mutter hat ihn die Treppe hochkommen sehen, das war aber gar nicht so", beschreibt Ahrens. „In dem Moment ist er wohl gerade gestorben." Außer Hahn verunglücken elf weitere Bergleute am 26. Januar 1968 durch eine Sprengstoffexplosion im Schacht Mathilde. Anders als beim sogenannten Wunder von Lengede im Jahr 1963 ist sofort klar, dass niemand überlebt hat.
Im Lengeder Rathaus zeigt eine Ausstellung die 105-jährige Bergbau-Geschichte des kleinen Ortes. Die Ursache für die Explosion ist bis heute ungeklärt, erläutert Werner Cleve von der Ortsheimatpflege. Klar sind die folgenden Fakten: In der Woche vor der Katastrophe sorgt schmelzender Schnee im Fluss Fuhse für Hochwasser. Dadurch laufen etwa 60 000 Kubikmeter Wasser in die Grube und setzen das Sprengstoffmagazin unter Wasser, sagt Cleve und zeigt mit einem Laserpointer auf einen Nachbau der Schachtanlage in Miniaturform.
Unbrauchbarer Sprengstoff sollte entsorgt werdenIn der Frühschicht des Unglückstags erhalten drei Bergleute einen Auftrag: Sie sollen sechs Tonnen nassen, unbrauchbar gewordenen Sprengstoff zur Entsorgung in eine ausgeerzte Abbaukammer bringen und dann den Eingang sprengen. Gegen 10.15 Uhr kommt es im Ostteil der Grube zur Explosion, die drei Männer sind sofort tot. Durch die Druckwelle und die giftigen Gase sterben auch neun weitere Männer, die 50 Meter entfernt Frühstückspause machen. Warum der nasse Sprengstoff überhaupt zündete, bleibt auch nach ausführlichen Untersuchungen ein Rätsel, führt Cleve aus.
Praktikant aus Südafrika gehörte zu den TodesopfernDas zweite, unbekanntere Grubenunglück von Lengede hat viele tragische Aspekte, ergänzt Cleve. Das Schicksal von Reinhard Bartels beispielsweise. Er überlebte das Unglück von 1963, zählte sogar „zu den ersten fünf, die sich selbst retten konnten". Vier Jahre später stirbt er bei der Explosion. Genau wie der Südafrikaner Jimmy Wilson, mit 27 Jahren das jüngste der Opfer. Der Bergbau-Student war für ein Praktikum in Lengede, das erst wenige Tage zuvor begonnen hatte.
Nach dem Grubenunglück 1963 wird der Bergbau modernisiert, berichtet Cleve. Um das Eisenerz abzubauen, werden fortan Schneidmaschinen statt Sprengstoff eingesetzt. „Umso tragischer, dass das Unglück 1968 durch eine Explosion entstand."
Nach dem Unfall wurde die Bergbauverordnung bundesweit ergänzt. Es wurden klarere Regeln für die Entsorgung von Sprengstoff unter Tage formuliert, die bis heute gültig sind. Die pragmatische Anita Ahrens hat darauf eine klare Antwort: „Wenigstens zu etwas war es gut."
Zum Gedenken an das Unglück findet um 11 Uhr an der Gedenkstätte am Grubenweg eine öffentliche Kranzniederlegung statt. Außerdem ist die Bergbau-Dauerausstellung im Rathaus von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Die AG Bergbau der Ortsheimatpflege bietet Führungen an.
Von Leonore Kratz (epd)
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