Britz in Berlin-Neukölln: In diesem Ortsteil im Süden der Hauptstadt ist Berlin wenig spektakulär. Fernab der pulsierenden Mitte reihen sich Autohäuser, Hundesalons und Billigbestatter aneinander. Nahe dem Britzer Garten - einem 90 Hektar großen modernen Landschaftspark - gibt es seit Oktober des letzten Jahres eine neue WG mit sechs Jugendlichen - sie sind geflüchtet und minderjährig.
Wer lebt in der WG?Die Bewohner sind sechs Jungen im Alter von 16 und 17 Jahren, die als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (kurz: UMF) nach Deutschland gekommen sind. Zwei der Jungen kommen aus dem Iran, zwei aus Syrien, die anderen beiden aus Gambia und Afghanistan.
Benjamin, ein zurückhaltender junger Mann, der im März 17 Jahre alt wird, kam über die sogenannte "Balkanroute" nach Deutschland. Nachdem er im Alter von neun oder zehn Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan in den Iran floh, machte er sich mit 16 erneut auf den Weg. Als einziger aus seiner Familie flüchtete Benjamin in die Türkei und kam mit einem Boot nach Griechenland. Von dort aus ging es zu Fuß weiter nach Mazedonien, Serbien, Ungarn und schließlich über Österreich nach Deutschland. In München angekommen, wurde er dem Land Berlin zugeteilt. In Berlin meldete sich Benjamin bei der Erstaufnahme- und Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dort wurden Benjamins Papiere geprüft und sein Gesundheitszustand festgestellt.
2014 kamen so rund 11.000 minderjährige Flüchtlinge alleine nach Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Schätzungen der Jugendämter zufolge sollen es 2015 mehr als 30.000 gewesen sein, andere Quellen sprechen von 50.000. Die meisten kamen aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und dem Irak.
Sieben Monate dauerte Benjamins Reise: "Ich bin froh, dass ich nun hier in dieser WG bin und fühle mich sehr wohl", sagt Benjamin, der sich mit einem hellblauen Hemd extra für den Pressetermin schick gemacht hat. Der junge Flüchtling versteht bereits sehr viel Deutsch, das Sprechen fällt ihm aber noch schwer. Wenn er nicht weiter weiß, helfen ihm seine Mitbewohner Musa (17) aus Gambia und Ahmad (16) aus Syrien.
Wie lebt es sich in der WG?Man merkt sofort, dass das WG-Leben harmonisch abläuft. Die Jungen sind entspannt, sind genauso höflich zueinander wie zu ihren Betreuern. Die zwei Betreuer des gemeinnützigen Vereins JaKuS (Jugendarbeit, Kultur und Soziale Dienste), der die WG anbietet, sind immer von Montag- bis Freitagnachmittag in der WG. Sie kümmern sich um das Alltagsleben der Jugendlichen: Behördengänge, Arztbesuche und auch Liebeskummer: "Für die Jungen sind mein Kollege und ich ein Stück weit der Elternersatz", erklärt die Sozialarbeiterin Silvia Härle.
Den jüngsten WG-Bewohner Ahmad, der mit 15 in die WG zog, nennt sie liebevoll "mein Baby". Aber die erfahrene Betreuerin hat ihre Jungen auch im Griff: Als sie sieht, dass am Backofen noch Fettschlieren sind, ruft sie die Jungs in die Küche: "Schaut mal her, so geht es richtig", erklärt sie geduldig und lässt die Jungs noch einmal putzen.
An diesem Abend ist der Gemeinschaftsabend. Dann kochen alle zusammen. Diesmal ist Musa hauptverantwortlich für das Essen. Was er kochen möchte, weiß er noch nicht. Er kommt gerade von der Schule und gönnt sich erstmal eine Tiefkühlpizza und ein Glas Cola.
Wie sieht es in der WG aus?Jeder der Jungen hat sein eigenes Zimmer, das etwa 18 bis 20 Quadrameter groß ist. Bett, Schreibtisch, Schrank: Die Zimmer sind schlicht eingerichtet, bieten aber auch einen guten Rückzugsort. Da in dem Haus zuvor ein Kinderheim war, sind auch zwei Baderäume mit mehreren Waschbecken vorhanden, sowie eine einfache Küchenzeile.
Das Herz der Wohnung ist ein heller Gemeinschaftsraum, in dem sogar ein großer Fernseher hängt. "Den haben wir uns angeschafft, damit die Jungen die deutsche Sprache auch beim Fernsehen lernen können", erklärt Silvia Härle und ergänzt, "diese Woche wird er angeschlossen. Die Jungen sind schon ganz scharf drauf, dass er endlich funktioniert."
Wie verbringen die Jungen ihren Alltag?Der Tag beginnt für die Jungen gegen 7 Uhr - dann geht es zur Schule. Sie alle haben ziemlich schnell einen Platz in Integrationsklassen an sechs unterschiedlichen Schulen in der Nähe gefunden. Dort lernen sie gemeinsam mit anderen minderjährigen Flüchtlingen aus vielen verschiedenen Nationen.
"Die Schule macht Spaß und unser Deutsch wird dadurch immer besser", erzählt einer. Doch in der Schule lernen sie nicht nur Deutsch, sondern gehen auch ins Kino und machen Ausflüge. "Die WG-Sprache bleibt aber vorerst ein Mix aus Englisch und Deutsch - mit den Händen und Füßen als Hilfsmittel", sagt Silvia Härle und lacht. Insgesamt laufe die Verständigung in der WG aber problemlos. Nur die bürokratischen Einzelheiten beim Jugendamt seien fast unmöglich zu erklären.
Ab 3 Uhr nachmittags herrscht dann laufender Betrieb in der WG. Es kommen Freunde vorbei, die die Jungen zum Teil noch aus ihrem Heimatort, der Flucht oder den Erstaufnahmeeinrichtungen kennen. Die WG-Bewohner haben auch gesetzliche Vertreter, die gelegentlich zu Besuch sind. Sie unterschreiben Behörden-Dokumente oder müssen einwilligen, wenn die Jugendlichen beispielsweise operiert werden sollen. Solche Vormünder sind in den meisten Städten gerade dringend gesucht. Berliner können sich beispielsweise an das Jugendamt Zehlendorf wenden, wenn sie junge Flüchtlinge vertreten und auch ein wenig Zeit mit ihnen verbringen wollen. Denn am Wochenende haben die Jungen - wie alle anderen Jugendlichen auch - Freizeit.
"Es ist wichtig, dass die Bewohner schon ein gewisses Maß an Selbständigkeit mitbringen, bevor sie einziehen", erklärt Silvia Härle. So hat jeder der Jugendlichen seinen eigenen Rhythmus und Alltag. Aber auch einen Urlaub gibt es: Im Sommer fährt die WG für rund eine Woche auf einen Freizeithof in der Nähe des Heideparks Soltau.
Wie geht es mit den Jugendlichen weiter?Es ist vorgesehen, dass die Jugendlichen aus der WG mit 18 oder 19 ausziehen. Das muss nicht von heute auf morgen passieren, aber sobald sie volljährig sind, können die Jungen ihre eigenen Wohnungen anmieten und eine Arbeit finden. Dabei unterstützen sie ihre WG-Betreuer - außerdem können die Jugendlichen sich auch nach ihrem Auszug noch an ihre ehemaligen Betreuer wenden.
Benjamin hätte nach seinem Auszug auch gerne seine Familie bei sich in Deutschland. Über die Möglichkeiten junger Flüchtlinge, ihre Familien nachzuholen, haben Union und SPD zuletzt heftig gestritten. Für minderjährige Flüchtlinge, die nur subsidiären Schutz genießen, die also kein Recht auf Asyl haben, allerdings als schutzbedürftig gelten, weil ihnen in ihrer Heimat Folter oder Lebensgefahr droht, wird die Möglichkeit, ihre Familien nachholen, jetzt für zwei Jahre ausgesetzt. Benjamins Familie ist im Iran erst einmal in Sicherheit. "Aber gut geht es ihnen auch nicht", erzählt er und senkt den Blick.
Neben der Schule interessiert er sich gerade fürs Modeln. Nachdem er seine Geschichte erzählt hat, posiert er auf dem Balkon noch ein bisschen vor der Kamera und setzt seinen lässigen Blick auf - in diesem Moment ist er nur ein unbekümmerter Teenager, auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Dass er im letzten Jahr tausende, gefährliche Kilometer und seine ganze Familie hinter sich gelassen hat, kann man ihm nicht ansehen.
Heute Abend wird ein neuer Junge mit einem ähnlichen Schicksal einziehen. Die WG-Bewohner freuen sich schon auf den Neuen - in der besonderen Wohngemeinschaft am abgeschiedenen, aber ruhigen Rand von Berlin-Neukölln.