Leon Igel

Zürich/Mannheim/Fulda

2 subscriptions and 2 subscribers
Article

Grenzenloser Glaube an die Kunst

Ob Rabauke, Hofnarr oder Theater-Clown, in ihren Beschreibungen waren sich die deutschen Medien einig: Der Aktionskünstler Christoph Schlingensief provozierte das Establishment und stellte dabei alles auf den Kopf. Ob das nun Quatsch sei oder Kunst, fragten sich die Kritiker zu Lebzeiten des Apothekersohns aus Oberhausen und stritten heftig. Verwunderlich ist das nicht, denn wer sich Schlingensiefs Werk nähert, stößt noch heute zwangsläufig an die Grenzen des eigenen Verstandes.

Morgen jährt sich der Todestag des zu jung an Krebs verstorbenen Multimedia-Künstlers zum zehnten Mal und Künstler, Weggefährten und Wissenschaftler überall im Land sind sich einig, dass jemand wie Schlingensief heute an allen Ecken fehlt. Wie keinem anderen gelang es dem 1960 geborenen Künstler, mit feinstem Gespür die Gegenwart wahrzunehmen und das, was er sah, der deutschen Öffentlichkeit wie in einem Spiegel vorzuhalten. Freilich entschied sich Schlingensief für einen Zerrspiegel wie von einem Jahrmarkt, denn das hinter dem perfekten Schein immer auch Krummes liegt, das wollte er zeigen.

Da redet das junge, wiedervereinigte Deutschland über immer mehr Turbo-Kapitalismus und Schlingensief lädt 1998 sechs Millionen Arbeitslose zum Baden im Wolfgangsee ein, um durch den erhöhten Wasserspiegel Helmut Kohls Ferienhaus zu überfluten. Damit rückt er die Ausgeschlossenen in den Fokus der Betrachtung. Das gleiche junge Deutschland ist auf der Suche nach seiner Identität und Schlingensief versenkt 1999 unter Wagner-Musik aus dem CD-Player deutschen Nippes im Hafen von New York City. Deutschland macht er frei für die große weite Welt.

Warum nun alles, das weiß man nicht immer. Freilich bricht es aber mit der Vorstellung, Kunst geschehe im geschützten Raum zwischen Programmheft und Pausen-Brezel. Gerade hier setzt Schlingensief mit seinen Projekten an, die sich von Oper über Film bis zur Zeitung sämtlicher Medien bedienen. Indem er provoziert, die Erwartungshaltungen der Zuschauer bewusst unterläuft und sich und seine Projekte der Lächerlichkeit preisgibt, lädt er die Öffentlichkeit ein, sich gestört zu fühlen, zu diskutieren und dabei die Kraft der Kunst zu spüren. Denn Kunst bedeutet für Schlingensief nicht, es sich im Museum oder im Theater bequem zu machen. Vielmehr eröffnet sie die Notwendigkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Gleichzeitig verneinen seine Aktionen den Gedanken, man könnte Kunst einfach so aus dem Leben streichen. Denn Kunst steckt für ihn in allem. Wenn er etwa wie im Bundestagswahlkampf 1998 während einer Kunstaktion eine Partei gründet, dann sagt er damit: Den Zirkus, den Politiker im Wahlkampf veranstalten, können wir auch. Das kann man nun für Quatsch halten oder nicht, anerkennen muss man: Wahlkampf ist wirklich großes Theater!

Die Grenze zwischen Kunst und Leben löst sich bei Schlingensief auf, so wie sich auch die Grenze zwischen ihm und seinem Werk auflöst. 2008 wird bei dem Künstler Lungenkrebs diagnostiziert. Fortan verarbeitet er die Erkrankung in seiner künstlerischen Arbeit. Ob in seinen Theaterinszenierungen oder im Krebstagebuch mit dem nach Gott rufenden Titel "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!", Schlingensief zeigt sich berauscht von der Schönheit des Lebens. Während er sich mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt, macht er ein großes Ja zum Leben, ein großes Ja zur Kunst und mit Blick auf sein Vermächtnis arbeitet er härter denn je.

Was bleibt nun am Ende? Eine solche Frage wiegt schwer, ganz besonders bei Christoph Schlingensief. Denn sich mit dem Grenzgänger auseinanderzusetzen, heißt bisher, fast nichts zu verstehen und dennoch klüger sein. Worin und warum dieses Klüger-Sein besteht, das untersucht seit geraumer Zeit die Forschung in verschiedenen Disziplinen. Neben den bisherigen Ergebnissen ist die alleinige Menge der Betrachtungen beachtlich. Schlingensief bewegt. Vom Quatsch-mit-Soße-Rabauke wurde Schlingensief zum ernstgenommenen Künstler, nun ist er mitunter auf dem Weg zum Klassiker.

Schlingensief glaubt bis zu seinem Tod an die Macht der Kunst und an die des Lebens. In seinem Krebstagebuch notiert er: "Ich wünsche mir so sehr, dass die Leute begreifen, wie sehr es sich lohnt, sich um diese Erde zu kümmern." Veränderung kann dabei nur an einem Ort beginnen: im Inneren des Menschen. Dort, wo die Kunst ansetzt und die Freiheit beginnt. Der Mensch darf handeln, er muss es nicht. Christoph Schlingensief entschied sich zu handeln.