Leon Igel

Zürich/Mannheim/Fulda

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Goldene Zweitausendzwanziger?

Die Corona-Pandemie ist eine große Chance, uns zum Besseren zu verändern. Um das zu verstehen, hilft der Blick auf das vergangene Jahrhundert.

Mit Wasserwelle, Glitzerkleid und holprigen Charleston-Schritten haben viele Menschen zum Jahreswechsel unser neue Jahrzehnt begrüßt, das in seiner Zahlensymbolik so viel Glamour und Bling Bling versprach. Vier Monate später ist davon nichts mehr zu spüren. Motto-Partys und übermannshohe Sekt-Pyramiden gibt es keine mehr, stattdessen: Kontaktverbot, soziale Isolation, stay home. War's das also mit der Wiedergeburt der Goldenen Zwanziger?

Keineswegs. Wer Parallelen zu jenem Jahrzehnt ziehen möchte, der muss erkennen, dass es gerade erst losgeht. Denn golden – also wertvoll – waren an den Zwanzigern mitnichten die Partys und das wilde Leben in Berlin, das ist nur die schimmernde Oberfläche, sondern etwas anderes: das Bewusstsein der Menschen über ihre Gegenwart. Das klingt paradox, und das ist es. So besoffen und berauscht die Menschen waren, so klar waren sie sich über ihren Zustand. Denn in Erwartung immer neuer Katastrophen und angesichts einer Welt, deren Kontrolle sie verloren geglaubt zu haben, machten sie das einzige, was ihnen blieb: die Gegenwart feiern. Denn da mochte kommen, was wollte, der Rausch gehörte ihnen. Und auf ihn hatten sie Einfluss. Wer soff und kokste, der gewann ein Stück Kontrolle zurück.

Dabei ist der Rausch nicht auf den Drogenexzess beschränkt, er kann in allem geschehen, in dem der Mensch sein Selbst verliert. Dieser Kontrollgewinn durch Selbstverlust zieht sich durch die Jahrzehnte in immer anderer Ausformung und unterscheidet sich in den sozialen Gruppen. Wofür sich der eine etwa hemmungslos seiner Sexualität ergibt, das erfährt der andere im Gebet. Der Wille zum Rausch ist immer da, nur ist er mal mehr, mal weniger offensichtlich. In den jetzigen Tagen erkennen wir, dass er dem Menschen so wichtig ist, wie lange nicht mehr. In Zeiten von Solo-Selbständigkeit, Selbstoptimierung und Selbstfürsorge fällt der Ausschlag des Rausches aber weniger selbstzerstörerisch aus.
Lassen wir diesen Gedanken plastisch werden. Ein Freund hat zu Beginn der Kontaktsperre entschieden, in sein altes Kinderzimmer zu ziehen, um seine Familie zu unterstützen. Aber dieser Freund ist über dreißig Jahre alt und katholischer Pfarrer, das Leben im Elternhaus ist ihm Jahre entfernt. In der Nacht vor der Abfahrt schrieb er dem Autoren dieser Zeilen per Whatsapp „Update: eine halbe Flasche Wein, ein Jacky Cola und eine Tafel Ritter Sport helfen bei der Trauerbewältigung ein Stück weiter“. Mein Freund hat aufgrund der Corona-Pandemie die Kontrolle über sein selbstbestimmtes Leben verloren. Ins Kinderzimmer will er nicht, aber er fühlt, dass er es muss, um seiner Familie zu helfen. Das Zwiegespräch mit Gott bringt ihm die schnelle Beruhigung nicht, also gibt er sich seinen Genüssen bis zum Schwips hin. In diesen letzten Stunden in seiner Wohnung gehörte er nur sich und seinem Rausch.

Wie diesem Pfarrer geht es uns allen. Nicht mehr das Wollen treibt unsere Handlungen an, sondern das Müssen. Wir tun, was wir tun müssen, um den Schaden des Virus möglichst kleinzuhalten. Dieser unsichtbare Feind unserer Gesellschaft des Normalbetriebs zeigt, mit welcher ungeheuren Wucht die Realität auf uns eindrückt. Lange glaubten wir, alles im Griff zu haben. Die Welt gehört uns, wir haben die Natur bezwungen und jetzt gebietet dieses Virus uns zu mäßigen. Die Welt gehört eben nicht uns Menschen, sondern wir gehören ihr. Die Natur ist stärker als die Zivilisation. In einer Fünfzigstunden-Woche und im Freizeitstress zwischen Fitnessstudio und Achtsamkeitsübungen kann man das leicht vergessen, umso stärker schmerzt die Einsicht, wenn sie plötzlich und aufgezwungen kommt. Eine neue Erkenntnis ist das nicht, der Mensch ist nur vergesslich. Der Blick in die Geschichtsbücher zeigt das.
Der Untergang der Titanic ist so ein Beispiel. Die Menschen sahen 1912 diesen schwimmenden Palast, das größte Gefährt, das je von Menschenhand erbaut wurde und betrachteten das als Sieg für die menschliche Spezies über die Natur. Und dann versenkte ein Eisberg den menschlichen Hochmut in weniger als drei Stunden. Der Untergang der Titanic wurde nur dadurch zum modernen Mythos und nicht aufgrund der 1500 Toten. Wenn Menschen sterben, ist das bedauerlich, ohne Frage, aber der Tod ist überall und der Mensch ist aus Selbstschutz daher abgestumpft. Sobald aber etwas ihn und seine Ordnung bedroht, reißt er die Augen auf und zeigt sich betroffen. Denn ihm wird für kurze Zeit bewusst, wie zerbrechlich seine Vorstellungswelt grundsätzlich und zu jeder Zeit ist.

Der Einbruch des Realen mit voller Wucht bewirkt aktuell, dass die Menschen zusammenstehen und kurzfristig ihre Ordnung aufgeben, um sie langfristig zu bewahren. Gerade der Ausnahmezustand prüft Strukturen. Er verfestigt, was sich bewährt, und verändert, was korrigiert werden muss. Den Normalzustand kann es ohne die Krise nicht geben. Der Umgang unserer Gesellschaft mit der Corona-Pandemie zeigt also noch etwas Weiteres. In der radikalen Gegenwartsbezogenheit unserer Tage stürzt unsere Vorstellung einer schicksalhaften Weltordnung ein. Wir können unsere Gegenwart beeinflussen und damit Zukunft gestalten, wir müssen es nur wollen. Wenn Schnapsbrennereien nun Alkohol für Desinfektionsmittel herstellen und Regierungen unvorstellbare Summen in die Wirtschaft pumpen, dann verdeutlicht das: Sobald auf Gesellschaften die Realität einbricht und sie einen absoluten Kontrollverlust fürchten, nehmen sie alle verfügbaren Mittel in die Hand, um gemeinsam etwas zu verändern.

Warum Hungersnöte und Flüchtlingsleiden da nicht zu mildern sind oder der Klimawandel eine unbewältigbare Aufgaben sein soll, können wir ab sofort erklären, wir müssen es aber auch vertreten können: Das Leid in fernen Erdteilen oder in der Zukunft, dafür fühlen wir uns in unserer heimeligen Welt nicht zuständig. Wer von Kindersoldaten und Sklavenarbeit hört und Betroffenheit spielt, der muss ab sofort mit aller Wucht der Ehrlichkeit sagen: Es geht mich nichts an, sonst könnte ich es ja ändern.

Die Corona-Pandemie ist zu bewältigen. Aber sie ist eine große Aufgabe und sie stellt uns vor noch viel größere Aufgaben, wenn wir die Lehren aus ihr ernst nehmen. Die Zukunft ist uns so nah, wie lange nicht mehr. Diese Erkenntnis mag lähmend sein, ein Grund also, die Gegenwart zu feiern. Dass wir da Malbücher ausmalen, Hefezopf backen oder saufen wollen, ist nachvollziehbar. Da geht es uns in unseren Zwanzigern ähnlich wie den Menschen vor hundert Jahren. Ist das aber Grund genug, jener Zeit nachzueifern, um uns selbst zu bestärken? Das ist mit Vorsicht zu genießen. Auch Florian Illies betont das in seinem Beitrag in Die Zeit (5/2020) über die Sehnsucht der heutigen Menschen nach den Goldenen Zwanzigern. Die 1920er waren freilich ein Jahrzehnt der gold-berauschten Partys, sie waren aber immer auch ein Tanz auf dem Vulkan mit Krater-Blick, in den am Ende alle stürzten. Wer das verinnerlicht hat, darf auch in Zukunft mit Charleston-Grundschritten in Nostalgie schwelgen und Sekt aus Pyramiden saufen. Aber goldene Zweitausendzwanziger werden daraus nicht. Dafür braucht es mehr als nur den Schwips: den Mut, Zukunft zu gestalten.