Hamburger des Monats:
Massenüberwachung ist der Konflikt der digitalen Gesellschaft. Um Whistleblower Edward Snowden formiert sich weltweiter Widerstand. Auch in Hamburg wurde eine Vereinigung gegen Überwachung wiederbelebt. Ein Bündnispartner von „Stop Watching Hamburg“ ist der Chaos Computer Club. Die Mitglieder Michael Hirdes (40) und Jan Girlich (30) warnen vor allgegenwärtiger Überwachung.
Wie setzt sich das Bündnis zusammen?
Michael Hirdes: In einer ähnlichen Konstellation gab es das schon zu den Anti-ACTA-Protesten letztes Jahr. Als jetzt der Überwachungsskandal der NSA (Anmerkung der Redaktion: National Security Agency) publik wurde, haben wir das Bündnis für die Demonstration zum bundesweiten Aktionstag am 28.7. neu belebt. Wir sind 16 Bündnispartner, darunter NGOs wie der Chaos Computer Club oder die Digitale Gesellschaft, aber auch Parteien wie die Grünen oder die Piraten.
Worum geht es in der Vereinigung?
Jan Girlich: Wir haben zehn Forderungen auf unserer Homepage formuliert. Dazu gehört eine detaillierte Aufklärung, was genau passiert ist. Wer wird von der NSA abgehört? Was wird abgehört? Und natürlich, dass diese Maßnahmen aufhören und wir den Amerikanern sagen: So geht es nicht! Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, die Übertragungswege des deutschen Internets technisch besser zu schützen. Michael Hirdes: Wir fordern, dass der Grundrechtabbau durch Vorratsdatenspeicherung und durch Bestandsdatenauskunft in Deutschland zurückgenommen wird. Wenn keine Daten gespeichert werden, dann können sie auch nicht „abgeschnorchelt" werden.
Wie seid ihr persönlich mit dem Thema Überwachung in Berührung gekommen?
Jan Girlich: Ich war in den 90er Jahren die ersten Male im Internet unterwegs. Das war alles ganz neu. Ich habe versucht herauszufinden, wie das alles funktioniert. Und ich habe meine ersten Emails geschrieben. Mir wurde da schon gesagt: Pass auf! Das ist so, als ob du eine Postkarte durchs Internet schickst. Da ist mir klar geworden, dass alles, was ich durchs Internet schicke, für jedermann möglicherweise lesbar ist. Bald kamen dann die ersten Freemail-Anbieter, die kostenlosen Emailservice angeboten haben und dafür passende Werbung geschaltet haben.
Michael Hirdes: Ich bin ein paar Tage älter als Jan. Als ich angefangen habe, mich mit Computernetzen zu beschäftigen, war das Internet noch nicht in der Form für den Normalbürger erreichbar. Auch damals gab es schon Leute, die gesagt haben: Macht euch klar, was ihr da tut. Ihr schreibt Klartextnachrichten über ein Medium, das ihr nicht kontrolliert. Deshalb habe ich relativ früh Sachen wie PGPfone (Anmerkung der Redaktion: Pretty Good Privacy Phone) und Email-Verschlüsselung genutzt.
Habt ihr etwas zu verbergen?
Jan Girlich: Die meisten Menschen realisieren einfach nicht, was sie zu verbergen haben. Das kann man mit ein paar Rückfragen schnell herausfinden. Würdest du mir deine Bank-Pinnummer verraten?
Michael Hirdes: Oder darf ich mal in deine Handtasche schauen?
Da gebe ich Jan lieber meine PIN-Nummer!
Michael Hirdes: Stell dir vor, du stehst mit deiner Handtasche in der Mönkebergstraße. Da ist dein Handy drin und am besten auch noch dein Tagebuch. Es kommen 300 Männer an dir vorbei und jeder darf da reinschauen und alles durchstöbern.
Kritisch ...
Michael Hirdes: Aber genau das passiert da draußen.
VDS, BDA, Prism, Tempora ... Könnt ihr eine kurze Einführung in die Materie geben.
Jan Girlich: Prism ist das amerikanische Überwachungsprogramm, das versucht, den weltweiten Internetverkehr zu erfassen. Und zwar alle Metadaten: Wann hat wer mit wem wie lange kommuniziert und wo waren die Personen. Diese Daten sind meist schon aussagekräftiger als der Gesprächsinhalt. Das betrifft alle Kommunikationen, die elektronisch erfassbar sind - also auch Telefonate oder SMS. Tempora ist das Äquivalent der Briten. In Deutschland gibt es die Vorratsdatenspeicherung (VDS) und die Bestandsdatenauskunft (BDA).
Michael Hirdes: Um die BDA zu verstehen, muss man wissen, was ein Bestandsdatum ist. Zu jeder Telefonkarte gibt es eine PUK-Nummer. Die ist beim Provider gespeichert - also bei Vodafone, T-Mobile und wie sie alle heißen. Wenn eine Ermittlungsbehörde auf mein Handy zugreifen will, darf sie nach dem neuen Gesetz von meinem Telefonanbieter diese Nummer anfordern und so über Entfernung auf mein Telefon zugreifen und Verbindungsdaten auslesen. Darunter fallen auch Email-Passwörter. Jeder mittlere Beamte darf ohne richterlichen Beschluss dein Email-Passwort anfragen.
Nutzt ihr Google? Habt ihr ein Handy?
Michael Hirdes: Ein Handy ja. Aber ich nutze weder Google noch Facebook, GMX oder einen anderen freien Provider. Ich betreibe meinen Mailserver selber. Den technischen Sachverstand hat nicht jeder, aber ich wage zu behaupten, dass heutzutage fast jeder jemanden kennt. Und dass man sich mit ein paar Leuten zusammentun kann, jeder gibt fünf Euro im Monat und man betreibt zusammen seinen eigenen Mailserver.
Jan Girlich: Ich bin auf einem Server, den ein guter Freund von mir betreibt. Wir teilen uns den zu Sechst.
Michael Hirdes: Facebook zu nutzen ist ohne NSA schon der Wahnsinn. Bei diesen Diensten muss man sich vor Augen halten, dass der Betrieb Milliarden kostet. Die nehmen kein Geld von den Benutzern, die verdienen Geld durch Werbung. Werbung wird dadurch teuer, dass die Betreiber viel über ihre Benutzer wissen. Da gibt es diesen schönen Satz: Wenn die Dienstleistung nichts kostet, bist du nicht der Kunde sondern das Produkt.
Ende Juli habt ihr die Demo „Stop Watching Us - We are all Edward Snowden" organisiert. Was macht ihn zum Helden?
Jan Girlich: Er hat Informationen, von denen er glaubt, dass sie bekannt sein müssen, freigegeben. Das ist ein klassisches Whistleblowing. Ich bin der Meinung, dass Leute, die so etwas tun, geschützt werden sollten. Ich bin schwer enttäuscht, dass die amerikanische und jede europäische Regierung das anders sieht. Sie versuchen ihn als Verbrecher abzustempeln.
Michael Hirdes: Ein wichtiger Whistleblower, der in der Diskussion immer wieder vergessen wird, ist Bradley Manning, der Wikileaks-Informant. Er deckte die Kriegsverbrechen der USA auf und wird dafür wahrscheinlich 140 Jahre ins Gefängnis gehen.
Das Strafmaß wurde auf 90 Jahre reduziert.
Michael Hirdes: Oh, Entschuldigung. Dann ist ja gut. Der Mann ist ja auch erst 30! Er wird für seine Überzeugung, dass er ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit öffentlich gemacht hat, als Verräter beschimpft. Genauso geht es Snowden. Whistleblowing geht bis zum Watergate-Skandal in die Vergangenheit zurück.
Jan Girlich: Als die Watergate-Affäre bekannt wurde, ist der Präsident zurückgetreten. Heutzutage sieht das anders aus.
Michael Hirdes: Das wird sich Nixon auch jeden Tag denken.
Hättet ihr anstelle der Whistleblower das Gleiche getan?
Michael Hirdes: Das ist ähnlich wie die Frage: Wenn nachts auf der Straße ein Mann mit einer Pistole vor dir und deiner Freundin steht - würdest du dich vor sie werfen? Da möchte ich nicht spekulieren. Das ist das, was immer als Zivilcourage gefordert wird. Das ist das Äquivalent zu den Leuten, die in der U-Bahn einen rassistischen Übergriff sehen. Die aufstehen und sagen: Das geht nicht!
Und sich im Fall Snowden mit mächtigen Gegnern anlegen.
Michael Hirdes: Wir müssen uns alle im Klaren sein, dass das Leben von Edward Snowden und seiner Familie vorbei ist.
Jan Girlich: Das war auch ein Knackpunkt in seiner Mitteilung, den er bedacht hat. Was tue ich meiner Familie damit an. Das ist für keinen Menschen eine leichte Entscheidung.
Kommen wir auf Hamburg zurück. Bei eurer Demo sprach FDP-Politiker Burkhard Müller-Sönksen auf dem Podium. Er erntete Stinkefinker. Wie kann es sein, dass die in der Szene ungeliebte Partei in Sachen Datenschutz mitmischt?
Michael Hirdes: Dieses Bündnis ist demokratisch. Jede demokratische Organisation darf mitmachen. Nazis nicht. Wenn wir jede Partei ausgeschlossen hätten, die irgendwann an einer Regierung beteiligt gewesen wäre, hätten wir da mit den Piraten alleine gestanden. Auch wenn Burkhard Müller-Sönksen nicht mit jedem harmoniert, hat er trotzdem als Bürger und Politiker das Recht zu reden. Man kann von der FDP halten, was man möchte, wenn aber bei einer Demonstration geredet wird, sollte man erst zuhören und hinterher Unmut kundtun und nicht wegen der bloßen Anwesenheit.
Jan Girlich: Die FDP hat das interessante Problem, dass der Landesverband mit der Bundespolitik in einem Widerspruch steht, was die politischen Inhalte angeht. Ich vermute, dass gerade bei den Leuten, die da standen und gebuht haben, nicht sichtbar ist, dass Burkhard Müller-Sönksen eine andere Meinung vertritt als seine Mutterpartei in den letzten Jahren.
Ihr kritisiert nicht nur die digitale Überwachung, sondern auch die analoge. Stichwort „Gefahrengebiete" ...
Jan Girlich: Ein Gefahrengebiet ist die physisch gewordene Vorratsdatenspeicherung und Gesamtüberwachung der Bevölkerung. Polizisten haben in einem Gefahrengebiet das Recht, jede Person ohne einen Anfangsverdacht zu durchsuchen, an- und festzuhalten. Das ist ein großer Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen. Das merkt man, wenn man mit Leuten spricht, die sich dreimal überlegen, ob sie sich im Gefahrengebiet auf der Straße treffen.
Das beeinflusst tatsächlich das Verhalten?
Jan Girlich: Gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund habe ich das öfters gehört. Die werden viel häufiger untersucht. Michael Hirdes: Der Leiter eines Polizeireviers darf nach Gutdünken sagen: Wir würden gerne folgendes Gefahrengebiet ausrufen. Er muss dafür nur mit einer Ebene über ihm Rücksprache halten. Es ist also keine richterliche Anordnung vonnöten. In Bezug auf die Holstenstraße und die Problematik, die da in den letzten Wochen hochgekommen ist, wurde das Gefahrengebiet Schanze mit einem Rüssel versehen, der hoch bis zum Holstenplatz reicht. Das wurde kurzfristig entschieden um dortige Übergriffe zu rechtfertigen.
Welche Überwachung gibt es sonst noch in Hamburg?
Michael Hirdes: Ich weiß, dass die Polizei in Gefahrengebieten in der Schanze oder auf Pauli aus Wohnungen heraus auf die Straße filmt. Die sprechen dann freundlich vor: Guten Tag, wir würden gerne eine Kamera in ihr Wohnzimmer stellen. Das dient der Sicherheit. Was auch immer wieder passiert - in Hamburg nicht so stark, aber in anderen Bundesländern - ist, dass Demonstrationen videoüberwacht werden. Das darf nur bei Gefahr im Verzug und akuten Straftaten passieren. Das haben wir hier in Hamburg bei der ACTA-Demo im Februar letzten Jahres erlebt, einer Veranstaltung gegen Überwachung. Da fuhr ein Kamerawagen der Polizei mit ausgefahrenem Teleskoparm vorm Zug her. Das schränkt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ein. Bei der Demo im Juli hat sich die Polizei sehr zurückgehalten.
Was habt ihr für Reaktionen auf die Demo im Juli bekommen?
Jan Girlich: Es gab ja noch vorher diese kleine Demonstration vor dem amerikanischen Generalkonsulat hier in Hamburg. Da habe ich mit vielen Leuten gesprochen, die einfach so vorbeigingen. Einige haben gesagt: Na ja, wenn ich hier jetzt stehen bleibe, dann wissen die, dass ich bei einer in Anführungszeichen „anti-amerikanischen" Demonstration war. Was passiert, wenn ich das nächste Mal in die USA reisen möchte? Was für eine Auswirkung hat das auf mein Leben auf meine berufliche Karriere?
Die Abwägung der Konsequenzen ist also der größte Hemmnisfaktor für die öffentliche Äußerung der kritischen Meinung?
Jan Girlich: Das ist einer der größten negative Effekt einer Gesamtüberwachung. Man spricht vom so genannten „Chilling Effect". Man traut sich nicht mehr, sich in Anbetracht der möglichen Konsequenzen zu äußern.
Michael Hirdes: Wir haben 5.000 Flyer zur Demo in der Stadt verteilt. Ich bin bewusst auch durch Planten un Blomen gezogen, weil da nicht die übliche Klientel ist, die zu Demos geht. Ich habe mich dort mit Leuten unterhalten. Menschen, die noch die DDR erlebt haben, sagten: Wir sind jetzt wieder an einem Punkt, bei dem wir zuletzt vor der Wende waren. Dass wir uns nicht mehr trauen, am Telefon oder per Email mit unseren Freunden offen über alles zu reden.
Genauere Infos unter: www.stop-watching-hamburg.de
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