Die Eritreerin Eden ist eine der Geflüchteten, deren Spur sich im Mittelmeer verliert. Seit über zwei Jahren sucht ihr Mann nach ihr.
KARTHUM/BERLIN taz | Ein Duft von Kardamon, Weihrauch und gerösteten Kaffeebohnen durchströmt die Hütte: Aaron empfängt zum Kaffee. Glatt rasiert, gekleidet in ein ungebügeltes, blau-weiß kariertes Hemd und Jeans sitzt der 29-jährige Eritreer auf einem rot gepunkteten Polstersofa. Auf seinem Schoß turnt Tochter Almaz herum, fünf Jahre alt. Ein aufgewecktes, aber stilles Mädchen mit pinkem T-Shirt, Pferdeschwanz und großen, verängstigt schauen Augen. Aaron und Almas heißen in Wahrheit anders - so wie alle weiteren in dieser Reportage vorkommenden Personen. Stünden ihre echten Namen in der Zeitung, könnten ihnen Gefängnis und Abschiebung drohen.
Ein Cartoon läuft im Fernsehen; auf dem Fernseher hocken Stofftiere, dazwischen steht eine Vase mit Plastikblumen. Die Wand des winzigen Wohnzimmers ist teils rosa gestrichen und von Löchern durchsetzt. Ein Ventilator schiebt die heiße Luft hin und her. Es sind weit über vierzig Grad - ein ganz normaler Augusttag in Khartum, der Hauptstadt des Sudan. Hier im bunt zusammengewürfelten, in Teilen aus Baracken bestehenden Viertel Deim hat kaum jemand eine Klimaanlage. Die meisten Bewohner sind Flüchtlinge aus Eritrea und Äthiopien.
Aaron streicht Almaz übers Haar, während sie gebannt in den Fernseher schaut. Er hat sie heute nicht in den Kindergarten geschickt, weil ihr am Morgen übel war. Ihr darf nichts passieren.
Früher waren sie mal zu viert. In einem anderen Leben, einem Leben, das am 27. Juni 2014 endete. An dem Tag verlor sich jede Spur von Aarons' Frau Eden und Tochter Mariam. Mariam war damals achtzehn Monate alt.
Vielleicht liegen ihre Leichen auf dem Grund des Mittelmeers.
Vielleicht werden Eden und Mariam irgendwo gefangen gehalten. Im Jemen, in Tunesien oder Libyen.
Vielleicht sind sie in den Händen des „Islamischen Staates".
Jeden Tag gehe er im Kopf diese Möglichkeiten durch, sagt Aaron, während er geistesabwesend in seiner Mokka-Tasse rührt. Er lässt sich Zeit. Zeit, um in seine Erinnerungen abzutauchen, zurück in den Sommer 2014, als sich sein Leben für immer verändern sollte.
„Miss you, Amore" schreibt er sieben Tage nach ihrem letzten Telefonat auf die Facebook-Pinnwand seiner Frau. Da weiß er schon nicht mehr, ob sie und Mariam noch leben. Die Medien erklären das Boot einige Zeit später für gesunken. „Das Boot war (...) völlig überfüllt, marode und sank kurz vor der libyschen Küste", so die BILD. Auch wenn nie Wrackteile gefunden wurden. Oder Schwimmwesten, Kleidungsstücke, Leichen.
Tagelang in der WüsteAaron hat sich weder von seiner Frau noch von seiner jüngeren Tochter verabschiedet, als die beiden auf ihre große Reise aufbrachen - eine Reise, die in ein besseres Leben führen sollte: nach Schweden. Er erinnert sich: „Plötzlich kam der Anruf des Schleusers, und alles ging ganz schnell." Es war mitten am Tag, Aaron bei der Arbeit. Als er am Abend nach Hause kam, war Eden schon weg. Tochter Mariam hatte sie mitgenommen - so, wie sie es besprochen hatten. Aaron sagt: „Wir dachten, dass man eine Frau mit einem Baby im Arm nicht so schnell vergewaltigt. Und dass sie so vielleicht mehr zu essen und zu trinken bekämen."
Die Fahrt durch die Wüste überleben die zwei. Anders als drei ihrer Mitreisenden, die verdursten, als der LKW eine Panne hat und vier Tage halten muss, mitten in der Sahara, wie Aaron später erfährt. Den 27. Juni 2014 werde er für immer im Kopf behalten, sagt er: Sein Telefon klingelt, und Eden ist dran - zehn Tage ist sie da schon unterwegs. Sie klingt erschöpft, aber zuversichtlich. Nur vor dem Meer fürchtet sie sich. Schwimmen kann sie nicht richtig.
Sie teilt ihrem Mann mit, die Gruppe würde am nächsten, spätestens übernächsten Tag in See stechen. Aarons letzte Worte lauten: „Mach dir keine Sorgen und bete."
Er weiß, was Eden und Mariam hinter sich haben. Schließlich hatte er sechs Jahre zuvor selbst versucht, nach Europa zu gelangen. In der Wüste, kurz vor der Grenze zu Libyen, ist er umgekehrt. Sein Körper hat die Reise nicht mitgemacht: Er bekam kaum Luft, hatte starken Husten und Schwächeanfälle.
Von Eritrea nach SudanEin zweites Mal wird es nicht geben, schwört sich Aaron - damals, bei seiner Rückkehr in den Sudan, ein Land, das zu dem Zeitpunkt erst wenige Monate seine neue Heimat ist. Eine Heimat auf Zeit, in die er aus Eritrea geflohen ist. Geflohen vor dem lebenslangen Zwangsdienst beim Militär, zu dem alle jungen Menschen eingezogen werden - verheiratete Frauen und Mütter ausgenommen.
Mit zwanzig beschließt Aaron, sein Land zu verlassen. Für immer. Eine Rückkehr wäre mit Lebensgefahr verbunden: Landesflucht gilt in Eritrea als schwere Straftat, an der Grenze zum Sudan schießen Soldaten auf Flüchtende.
Er flüchtet nicht allein: Eines Nachts Ende 2007 macht er sich mit ein paar Freunden auf den Weg, zu Fuß. Zwei Nächte brauchen sie, um in den Sudan zu kommen. Gepäck haben sie keines dabei, nur Wasser und Feigen. Sie fürchten sich nicht nur vor den eritreischen, sondern auch vor den sudanesischen Grenzschützern, die sich laut Aaron von Eritrea dafür bezahlen lassen, Flüchtende wieder zurück über die Grenze in ihr Heimatland zu bringen - ganz gleich, was dort mit ihnen passiert.
Er ist das jüngste von sieben Kindern, zwei Geschwister haben sich bereits ins Ausland abgesetzt: eine Schwester nach Australien, ein Bruder nach Südafrika.
Angst im LagerIm Sudan, direkt hinter der Grenze zu Eritrea, findet Aaron Zuflucht im Erstauffanglager „Wad Sherifey", der „Sonne von Sherifey". Die Zustände schockieren ihn, doch er hat Glück. Eine seiner Schwestern ist bereits im Lager. Sie nimmt ihn in ihrer Baracke auf, sieht zu, dass er - anders als die meisten - genug zu essen bekommt. Nur ist das Lager überfüllt, und Aaron wird in ein anderes verlegt. „Kilo 26" heißt es. Weil es 26 Kilometer hinter einem Staudamm gelegen ist.
Dort ist die Lage noch desolater und Aaron auf sich allein gestellt. Er sagt: „In Kilo 26 gibt es kein sauberes Wasser, keine Jobs, keine richtige medizinische Versorgung. Nach sechs Uhr abends traut sich keiner mehr raus, draußen sind Männer mit Waffen. Sogar die sudanesischen Polizisten haben Angst vor ihnen."
Geleitet wird das Camp von der sudanesischen Regierung und vom UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Die Aufgabenverteilung ist klar: Das Geld kommt vom UNHCR, das Sagen hat die Regierung.
Viele UNHCR-Mitarbeiter haben Angst vor der Regierung. Einer erzählt hinter vorgehaltener Hand, vergangenen Sommer sei ihnen mehrere Wochen der Zutritt zu Shagarab verwehrt worden, dem größten Lager in der Region. Circa 35.000 Flüchtlinge leben dort. „Jeden Monat bringt sich einer um", flüstert ein Eritreer, nachdem er sich in beide Richtungen umgedreht hat.
Auch der UNHCR-Mitarbeiter spricht leise - der Geheimdienst (NISS) soll nicht mithören. Der hat überall Spitzel und unterhält in Shagarab ein Büro. Dort muss sich jeder Camp-Besucher als allererstes melden. So wie jeder Flüchtling direkt nach seiner Ankunft vom Geheimdienst verhört wird. Auf diese Weise will der Informationen über Schleuser sammeln. Auch wenn es hartnäckige Gerüchte gibt, nach denen sudanesische Regierungsbeamte in Schleuseraktivitäten verwickelt sein sollen.
Kidnapping und LösegeldAaron ist im Rückblick froh, dass er nicht nach Shagarab musste - „so gefährlich wie es da ist". Regelmäßig werden Flüchtlinge aus dem Lager entführt. Meist von Angehörigen der Rashaida, einem ursprünglich aus dem Jemen und Saudi-Arabien stammenden Nomadenvolk, das im Grenzgebiet zwischen Eritrea und dem Sudan sein Unwesen treibt.
Bislang handelten die Rashaida mit Waffen, Öl, Devisen. Nun haben sie den Handel mit den Flüchtlingen entdeckt. Sie kidnappen sie vor dem Eingang des Camps, fesseln sie und bringen sie in Pick-Ups an geheime Orte, wo sie wochen-, oft monatelang festgehalten werden, bis ihre Verwandten das Lösegeld gezahlt haben: in der Regel mehrere Tausend Dollar. Das Durchschnittsgehalt in Eritrea beträgt umgerechnet um die 250 Euro. Im Jahr.
Die gekidnappten Flüchtlinge können nur durch die Hilfe von im Ausland lebenden Verwandten freigekauft werden. Von denen gibt es einige: Ein Viertel der eritreischen Bevölkerung soll sich mittlerweile aus ihrem Heimatland abgesetzt haben.
Die Entführungsopfer kommen oft traumarisiert ins Camp zurück. Die Frauen und Mädchen ganz besonders: Sie werden von den Rashaida vergewaltigt, einige tragen HIV davon, andere eine Schwangerschaft. Einen Psychologen gibt es in Shagarab nicht - die Stelle sei nicht mehr nachbesetzt worden, sagt der UNHCR-Mitarbeiter.
Flucht aus dem LagerAaron sagt, er habe schnell gemerkt, dass es für ihn im Camp keine Perspektive gebe. Nach wenigen Monaten in Kilo 26 findet er einen Schleuser, der ihn für 125 Dollar nach Khartum bringt. Dafür braucht Aaron Geld von seiner Familie. In den Camps bekommen Flüchtlinge vom UNHCR eine Unterstützung von umgerechnet circa acht Euro pro Monat. Die muss zum Essen reichen. Tut sie aber nicht - fast alle klagen über Hunger, weil das Geld nach einer Woche bereits aufgebraucht sei.
Aarons' Flucht aus dem Camp ist gegen das sudanesische Gesetz. Das sieht vor, dass alle Flüchtlinge in Camps leben. Dauerhaft. Wer das Camp verlässt, ist illegal. Und kann bis zu zwei Jahre im Gefängnis landen.
Eigentlich soll Khartum nur eine Zwischenstation sein, arbeiten darf Aaron hier sowieso nicht. Zumindest nicht legal. Flüchtlinge bekommen nur in den seltensten Fällen eine Arbeitserlaubnis. Und das auch nur, wenn sie registriert sind. Dafür hätte Aaron im Flüchtlingslager bleiben müssen. Wo es wiederum keine Jobs gibt. Eine perfide Logik. Dem Sudan ist das egal. „Wir sind ein sehr offenes Land. Flüchtlinge sind bei uns willkommen, sie können tun und lassen, was sie wollen. Die meisten reisen ja sowieso schnell weiter", sagt ein Regierungsmitarbeiter in einem vertraulichen Gespräch. Namentlich genannt werden will er nicht. Zahlreiche Anfragen nach einem offiziellen Gespräch über die Flüchtlingspolitik des Sudan bleiben unbeantwortet.
Aaron will auch weiter, aber nicht mehr mit Schleusern. Bis er eine bessere Möglichkeit findet, beschließt er, im Sudan zu bleiben. Er schläft anfangs in einem Hostel für umgerechnet einen Dollar die Nacht. Arbeit findet er in einer Bäckerei, schwarz. 15 Stunden pro Tag, ab drei Uhr früh. Dafür bekommt er 3,50 Dollar pro Tag. „Damals gutes Geld für mich", sagt Aaron heute.
Der Inhaber bietet ihm an, die Backstube auch als Schlafplatz zu nutzen. Dadurch kann Aaron etwas sparen. Um irgendwann seine Frau Eden, damals noch seine Freundin, nachzuholen. Die versteckt sich in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea - so entgeht sie der Zwangsrekrutierung. Aaron braucht fünftausend Dollar, um sie in den Sudan schleusen zu lassen.
Wiedersehen in KhartumDie Arbeit läuft gut, doch seine Gesundheit macht ihm Probleme: Aaron bekommt Husten, Atemnot, Hautausschlag. Für ungefähr zwei Monatsgehälter lässt er sich von einem Arzt untersuchen. Der stellt eine Mehlallergie fest, und Aaron muss kündigen.
Er hat Glück: Wenig später lernt er einen Mann kennen, der jemanden mit Englischkenntnissen sucht. Aaron kann gut Englisch - und Arabisch, das im Sudan gesprochen, aber bei weitem nicht von allen Flüchtlingen beherrscht wird. Die Firma des Mannes verkauft Kühe, Kamele und Ziegen nach Syrien und Deutschland. Aaron soll den Verkauf ankurbeln. Er filmt die Tiere und lädt die Videos bei Youtube hoch, als Werbung. Die Kunden sind begeistert, Aarons' Chef ist zufrieden. Aaron ist es auch: Er hat ein Büro und einen eigenen Laptop und verdient umgerechnet 500 Dollar im Monat. Viel Geld für ihn - aber nicht viel, wenn man 5000 Dollar für einen Schleuser braucht.
Eden macht Druck, sie will weg aus Eritrea, weg aus ihrem Versteck und zu ihrem Freund. 2010 geht ihr die Geduld aus, seit über zwei Jahren hat sie Aaron nicht mehr gesehen. Ein entfernter Verwandter arbeitet als Schleuser. Er willigt ein, sie für umgerechnet 170 Euro über die Grenze zu bringen. Als Gegenleistung schafft sie sieben Kunden heran. Aaron will das nicht, doch Eden setzt sich durch.
Wenige Monate nach ihrer Ankunft in Khartum heiraten die beiden. Im kleinen Kreis. Freunde hat Aaron noch nicht viele im Sudan. Geld sowieso nicht.
Ihr erstes Kind wird ein Jahr später geboren. Sie nennen es Almaz. Kurz vor der Geburt geht die Viehexport-Firma pleite, und Aaron verliert erneut seine Arbeit. Er sucht sich zwei neue Jobs: Tagsüber putzt er Häuser und Büros, abends arbeitet er als Kellner. Wieder alles schwarz.
Einmal wird er auf dem Weg von der Kirche zurück nach Hause von der Polizei aufgegriffen. Sie verhaften ihn wegen illegalen Aufenthaltes und stecken ihn ins Gefängnis. Ein Gefängnis extra für Flüchtlinge - aus dem immer mal wieder Flüchtlinge abgeschoben werden. Nach Äthiopien und sogar nach Eritrea. Was dort mit ihnen passiert, weiß niemand so genau. Erneut hat Aaron Glück: Er wird weder abgeschoben noch geschlagen - anders als viele seiner Mitinsassen, wie er sagt.
Nach zwei Tagen kommt er frei - gegen Geld. Umgerechnet knapp fünfzig Euro kostet ihn seine Freiheit. Der Sudan belegt im aktuellen Korruptionsindex von Transparency International den viertletzten Platz. Hinter Nigeria, Jemen und Libyen.
Trotz allem ist Aaron nicht unzufrieden. Auf Facebook schreibt er: „Ich bin vielleicht nicht da, wo ich sein will, aber Gott sei Dank bin ich nicht mehr da, wo ich früher war."
2.000 DollarNur daheim ist die Stimmung immer angespannter. Kurz nach der Geburt von Almaz wird Eden erneut schwanger. Ungeplant. Das Geld ist nach wie vor knapp, und Eden hält es nicht aus, zuhause eingesperrt zu sein, ohne Arbeit, ohne Perspektive, ohne Freunde. Draußen ist es zu gefährlich - Aaron will nicht, dass sie festgenommen wird. Eden redet immer häufiger von der Flucht nach Europa. Ihre Familie in Eritrea bestärkt sie darin.
Aaron versucht, ihr die Fluchtgedanken auszureden, doch Eden setzt sich wieder durch: Sie will versuchen, es bis nach Schweden zu schaffen. „Weil es da keine Diskriminierung gibt", sagt Aaron. „Und weil die großzügig und schnell sind bei Familienzusammenführungen. Anders als ihr Deutschen."
Etwas Geld hat er zur Seite gelegt, den Rest steuern Verwandte und Freunde bei. Edens Reise kostet 1800 Dollar vom Sudan bis nach Libyen und nochmal zweitausend Dollar für die Mittelmeerüberquerung bis nach Italien. Für Mariam müssen sie nicht zahlen - Kleinkinder nehmen die Schlepper umsonst mit.
Auf eine Spritze verzichtet Eden - eine Spritze, um nicht schwanger zu werden, wie sie sich viele Frauen vor ihrer Flucht geben lassen. Zwei von drei Frauen sollen auf der Flucht vergewaltigt werden, schätzt eine sudanesische Frauenrechtsorganisation, die anonym bleiben will.
Eden hofft, dass ihr Kind sie schützt. Gut einen Monat vor ihrer Abreise lädt sie bei Facebook ein neues Profilbild hoch. Es zeigt eine elegante, zierliche junge Frau mit Hochsteckfrisur, weißen Blumen im Haar und einem tief dekolletierten roten Oberteil. Edens lange Nägel sind weiß lackiert, ihre Lippen rosa geschminkt. Selbstbewusst schaut sie in die Kamera, ihr Blick ist offen und erwartungsvoll, fast keck. „Du bist schön", schreibt ein Freund darunter.
Als sie Aaron am 27. Juni 2014 aus Libyen anruft und ihm sagt, dass sie am nächsten oder übernächsten Tag ins Mittelmeer aufbrächen, stellt er sich darauf ein, ein paar Tage nichts von ihr zu hören. Fünf Tage kann die Reise locker dauern, weiß Aaron. In Seenot auch deutlich mehr. Er ist nun relativ gefasst. Größere Angst hatte er, als sie noch in Libyen waren. Einer seiner Nachbarn wurde vom „Islamischen Staat" gekidnappt.
An dem Wochenende, an dem Eden in See stechen soll, geraten mehrere Boote in Seenot, über 5000 Flüchtlinge werden innerhalb von 24 Stunden gerettet.
Ratloses WartenAaron verfolgt die Nachrichten aufmerksam. Dass die italienische Küstenwache so gut zu funktionieren scheint, beruhigt ihn. Sechs Tage nach dem vermeintlichen Ablegen des Bootes ruft er den Schleuser an. Der sagt, die Gruppe sei bereits in Italien angekommen. „Glückwunsch", fügt er hinzu. Dann legt er auf.
Aaron ist ratlos, weiß nicht, ob er sich freuen soll. Warum hört er nichts von seiner Frau, wenn sie doch gut angekommen ist? In den nächsten Tagen ruft er den Schleuser immer wieder an. Der geht nicht länger ans Telefon. Aaron erinnert sich noch heute an eine „seltsame Vorahnung", die ihn damals beschlichen habe.
Mindestens 242 weitere Passagiere werden vermisst. Auch Schwangere sollen unter ihnen sein. Und Kinder.
Aaron spricht mit Familien, die Angehörige auf dem vermissten Boot haben. Sie gründen eine Facebook-Gruppe, in der sie sich fast täglich austauschen und ausmachen, wer wen kontaktiert.
Die italienische Küstenwache sagt, ihr lägen keine Informationen über ein gesunkenes Schiff vor.
Über zwei Jahre später, im Sommer 2016, sucht Aaron noch immer nach Eden und Mariam. Zur Familie seiner Frau hat er engen Kontakt: „Wir alle hoffen, dass Eden noch lebt und sich eines Tages bei uns melden wird."
Auf seinem Facebook-Account schreibt er: „Ich wundere mich darüber, dass mich nichts mehr wundert."
Er hat mittlerweile einen verhältnismäßig gut bezahlten Job in einem Reisebüro gefunden, schwarz, noch immer. Dennoch reicht das Geld nicht für die Miete. Auch wenn Aaron und Almaz in einer vielleicht dreißig Quadratmeter großen Hütte leben. Ohne fließendes Wasser. Drei Untermieter hat Aaron bei sich aufgenommen, ebenfalls Flüchtlinge aus Eritrea. Die Mitglieder beider Familien sind Fremde füreinander, dennoch schlafen sie in einem Zimmer.
Aus dem Sudan will er so schnell wie möglich weg. „Irgendwohin, wo ich nicht mehr illegal bin. Acht Jahre im Untergrund sind genug. Ich will endlich ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein."