Dorieta Gjura hat ihre Stimme gefunden. Und wenn andere ihre verlieren, weil sie benachteiligt werden, möchte Gjura auch für sie sprechen. „Das fing schon im Kindergarten in Albanien an. Wenn jemand gemobbt wurde, musste ich einfach etwas sagen“, erzählt sie. Wie zuvorkommend sie ist, wird schon beim ersten Kennenlernen deutlich. Wenn das Gegenüber einen Cappuccino möchte und die Milch gerade schlecht geworden ist, geht Gjura aus der Tür, zur Bäckerei, und holt dort den gewünschten Kaffee. Geld möchte sie dafür nicht annehmen.
Politische Mitbestimmung ist für die 29-Jährige das Wichtigste im Leben. Bereits im Alter von 15 Jahren wurde sie in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, zur Schülerpräsidentin ihres Gymnasiums gewählt. Nach dem Abitur zog Gjura nach Berlin, um dort zwei Master in Europapolitik und Geschichte zu absolvieren.
Die Staatsbürgerschaft gab Gjura ein neues Lebensgefühl
Bei den Wahlen konnte sie ihre Stimme jedoch lange Zeit nicht abgeben, weil sie keine deutsche Staatsbürgerin war. Das änderte sich 2019. „Als ich eingebürgert wurde, war mein erster Gedanke: Endlich kann ich wählen.‘“ Stolz postete sie ein Foto mit ihrer Urkunde auf all ihren Online-Profilen. Viele Deutsche gehen nicht wählen, obwohl sie dürfen. Gjura wollte seit einem Jahrzehnt an die Wahlurne, durfte aber nicht. Die Staatsbürgerschaft habe ihr ein völlig neues Lebensgefühl gegeben, sagt sie. Endlich ein Mitspracherecht. Endlich die vollkommene Integration in die Gesellschaft, in der sie lebt und für die sie sich seit vielen Jahren politisch engagiert.
So ist Gjura seit Mai dieses Jahres stellvertretende Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen“ in Charlottenburg-Wilmersdorf. In die SPD ist sie 2012 eingetreten und arbeitet inzwischen für den Abgeordneten Christian Hochgrebe (SPD). Als Werkstudentin und Praktikantin war sie etwa im Europäischen Parlament, im Deutschen Bundestag und in der albanischen Botschaft von Berlin tätig. „Alles, was ich ohne deutsche Staatsbürgerschaft an politischer Teilhabe erreichen konnte, habe ich gemacht“, sagt Gjura stolz.
Gjura fordert kommunales Wahlrecht für Migranten
Bei diesem Lebenslauf wird klar, wie sehr sie sich darauf freut, im September endlich eine Wahlkabine betreten zu dürfen. „Gleichzeitig denke ich aber auch an viele andere, die in der gleichen Situation sind wie ich vor zwei Jahren und sich deshalb schlecht fühlen“, sagt Gjura. „Weil sie das Gefühl haben, ihre Stimme zählt nicht und kann somit nix bewirken.“ Zumindest auf kommunaler Ebene sollten Menschen ihrer Meinung nach auch ohne die Staatsbürgerschaft wählen dürfen. Sie deutet auf die Tauroggener Straße hinter den Fenstern von Hochgrebes Abgeordnetenbüro, in dem sie sitzt: „Wo genau eine Tempo 30 Zone eingerichtet wird, sollten alle mitbestimmen, die hier leben.“
Gjura wurden in ihrer politischen Karriere aufgrund ihres Migrantenstatus einige Steine in den Weg gelegt. Gerne hätte sie sich in der Europäischen Union oder im Auswärtigen Amt auf feste Stellen beworben. Doch alle Jobs, für die sie sich interessierte, konnte sie mit der albanischen Staatsbürgerschaft nicht bekommen. Oft habe sie das Gefühl gehabt, sich mehr beweisen zu müssen als andere, sagt sie: „Ich dachte, ich muss hier die doppelte Arbeit machen, den doppelten Master. Sonst verringern sich meine Chancen.“ Sie wolle sich nicht als Opfer darstellen, doch das Gefühl sei für viele Jahre geblieben.
Großvater weckte Gjuras Interesse an Politik
In Albanien war das anders. Damals sei die „Demokratische Partei Albaniens“ (PD) auf sie zugekommen und habe sie gebeten, für das Amt der Schülerpräsidentin zu kandidieren. Sofort witterte sie ihre Chance, etwas zu verändern - und willigte ein. Der Wahlkampf habe sich zäh gestaltet, erinnert sich Gjura: „Vor allem die Jungs konnten sich nicht vorstellen, eine Frau als Schülerpräsidentin oder als Vorsitzende des Jugendforums zu haben.“ Gewonnen habe sie trotzdem – mit nur einer Gegenstimme ihres Konkurrenten.
Den Sinn für Politik und Emanzipation habe sie von ihrem Großvater, sagt Gjura: „Er hat mir schon als Kind erzählt, was in der Politik schiefläuft.“ Auch habe er ihr Interesse für Hobbys geweckt, die in Albanien eher den Jungen vorbehalten waren. Fußball zum Beispiel. Dennoch sei ihre Familie wie viele andere eher konservativ geprägt. Auch die PD, für die Gjura die Präsidentschaftswahl an ihrem Gymnasium gewann, ist konservativ. Gjuras Einstellung änderte sich während ihres Studiums in Deutschland: „Ich habe dann überhaupt erst entdeckt, wie viele politische Strömungen es gibt.“
„In den letzten Jahren sagen viele Männer, dass sie Feministen sind“
Sie selbst sei zu der Überzeugung gekommen, dass linke Parteien mehr für die Emanzipation der Frau kämpften. Obwohl noch immer wesentlich mehr Männer als Frauen im Bundestag sitzen, sieht Gjura die Deutschen auf einem guten Weg in Richtung Gleichstellung: „Gerade in den letzten Jahren sagen viele Männer, dass sie Feministen sind. Das wäre auch hier früher undenkbar gewesen.“
Ob sie sich denn vorstellen könne, irgendwann für ein politisches Amt im Bundestag oder im Abgeordnetenhaus zu kandidieren? Die Frage ist Gjura etwas unangenehm. Sie blickt zu Boden, wägt den Kopf. Dann findet sie wieder zurück zu der Entschlossenheit, mit der sie normalerweise auftritt: „Erst einmal möchte ich mehr Erfahrung sammeln. Aber dann könnte ich mir das durchaus vorstellen.“
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