Die Corona-Krise macht die Berlinerinnen und Berliner einsam. Am Tierfriedhof in Steglitz trauern einige um ihre toten Haustiere.
Wenn Gretel Döbrich die Klinke des grünen Eisentors hinunterdrückt, verabschiedet sie sich von dem Lärm und der Hektik Berlins. Nur ein paar Schritte nach links, dann kommt sie vor der letzten Ruhestätte ihrer toten Haustiere an. Döbrich genießt die Stille, wenn sie vor dem weißen Grablicht steht. Es ist kaum ein Geräusch zu hören. Die Flamme der Kerze leuchtet unter dem durchsichtigen Plastik. Sie soll an ihren Kater Tilly und ihre Katze Jule erinnern.
Döbrich wählte ein anonymes Grab für Tilly und Jule auf dem Tierfriedhof an der Bismarckstraße in Steglitz. Einziger Schmuck ist das Grablicht. Jede Woche besucht sie die beiden, auch an diesem Sonntag. „Es zieht mich immer wieder her, als hätte Tilly mir ein Seil um den Hals gelegt und ziehe nun einmal die Woche daran“, sagt sie. Dabei hebt sie die Hände und zerrt mit ihnen an einer imaginären Schlinge, die um ihren Nacken festgebunden ist. Neben ihrem Tilly und ihrer Jule liegen rund 4000 andere Tiere auf dem Friedhof. Er gehört zum Unternehmen „Bärolina Haustierbestattungen.“ Auf seiner Website wirbt die Firma damit, „ein Partner für Trauer und Erinnerung“ zu sein, wenn das Haustier „eingeschlafen ist.“
Mehr als 34 Millionen Haustiere leben in deutschen Haushalten. Und verbringen dort vielleicht mehr Zeit mit ihrem Besitzer als manch anderer Mensch. Daher fällt der Abschied vom Tier oft so schwer, als würde es sich um einen nahen Verwandten handeln. Tierfriedhöfe gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Großstädten wie München oder Köln. In diesen drei Städten liegt die Anzahl der Single-Haushalte bei etwa 50 Prozent. Die strengen Kontaktbeschränkungen, die während der Corona-Krise gelten, führen zur Isolation von Alleinstehenden. Orte wie der Tierfriedhof in Steglitz dienen besonders in diesen Zeiten als Treffpunkt für Menschen, die sich manchmal einsam fühlen.
Seit dem Ableben ihrer Mutter denkt Gretel Döbrich oft an den Tod
Der Tierfriedhof ist für Döbrich kein Ort der Trauer, sondern der Erinnerung. Der Gedanken daran, wie Tilly mit einer Maus im Maul zu ihr gelaufen ist. Wie Jule in ihrem Körbchen auf dem Schrank wie eine Kaiserin thronte. Wie sie die Nähe zu den beiden spürte, an all den Tagen, an denen sie gemeinsam auf dem Sofa saßen und schmusten. „Verschmust sind beide immer gewesen, selbst im hohen Alter, als sie schon krank waren“, sagt Döbrich. Wenn sie davon erzählt, lächelt sie. Die pinke Farbe ihres Lippenstifts leuchtet in der Nachmittagssonne.
Kurz darauf wird sie ernst: „Die Verbundenheit mit einem Tier geht über die Schwelle zum Tod hinaus. Das ist für mich wie bei Menschen.“ Vor einigen Jahren sei ihre Mutter gestorben. Wenn sich ihr Grab nicht Hunderte Kilometer entfernt, bei ihrem Geburtsort in der Eifel, befände, würde Döbrich es auch jede Woche besuchen, sagt sie. Seit dem Ableben ihrer Mutter denke sie oft an den Tod. Schließlich werde sie auch nicht jünger. Sie würde sich freuen, wenn es gesetzlich möglich wäre, dass sie irgendwann neben ihren toten Haustieren bestattet werden könnte, fügt sie hinzu.
Viele der einstigen Herrchen und Frauchen, die an diesem Tag den Tierfriedhof besuchen, sind Rentner wie Döbrich. Einige von ihnen wählen anonyme, andere personalisierte Gräber für ihre Haustiere. Auf letzteren steht zwar nicht immer ein Grabstein, dafür aber oft ein Bild oder eine Tierstatue. Meist bilden sie Hunde und Katzen ab. Eines der Fotos zeigt Pit Bull Terrier „Rambo Garcia“, geboren 2005, gestorben 2015, wie er, neben seinem Herrchen vor dem Mercedes in der Einfahrt sitzend, neugierig in die Kamera blickt. Auf das Grab wurden weiße Kiesel gestreut, auf den Kieseln eine rote Laterne mit herzförmigen Fenstern aufgestellt. Die untere, linke Ecke des Grabes ziert die Skulptur eines Engelskopfs auf einem goldfarbenen Kissen.
Es gebe ein gewisses Gemeinschaftsgefühl unter den Besuchern des Tierfriedhofs, erklärt Döbrich. Alle grüßten einander freundlich. „Dort drüben auf dem Menschenfriedhof ist das anders“, sagt sie. Sie deutet zum Zaun, hinter dem sich der Friedhof Steglitz erstreckt. Dabei rümpft sie die Nase und reckt sie empor. Dort drüben sage niemand Hallo. Die Besucher des Tierfriedhofs bildeten einen Kreis der Verschworenen, erklärt sie: „Die anderen denken doch, wir sind die Bekloppten.“
Tatsächlich grüßen sich alle, die an diesem Sonntag durch das grüne Eisentor kommen. Man gibt einander Zeichen des Zusammenhalts gegen die dort drüben, hinter dem Zaun. Als ein altes Paar an einer jungen Frau vorbeigeht, werden sie nicht nur von ihr, sondern auch von ihrem Mischlingsrüden begrüßt. Mit dem Schwanz wedelnd läuft er auf die beiden zu. Zuvor hat er geduldig gewartet, während sein Frauchen das Laub vom Grab seiner beiden ehemaligen Spielgefährten zusammenharkte. „Hier liegen seine Kumpels“, erklärt die Frau dem Paar, „darum würde er gerne weg.“ Im nächsten Augenblick setzt der Rüde zum Sprint an. Er wird von der Leine zurück gehalten. „Komm zurück“, sagt sein Frauchen, „versuche nicht schon wieder, auszubüchsen.“
Auch Tilly habe seine Freiheit geliebt, sagt Döbrich, als sie erneut auf das Grab des Katers blickt. Sein Revier war der Innenhof von Döbrichs Wohnhaus. Dort fiel er ihr zum ersten Mal auf. Tilly war eigentlich das Tier ihrer Nachbarn. Sie kümmerten sich aber kaum um ihn, ließen ihn im Hof allein. „Abends hat er immer laut geweint“, sagt Döbrich. Also entschloss sie sich nach einiger Zeit, Tilly mit in ihre Wohnung zu nehmen. „Wir haben uns sofort wunderbar verstanden“, sagt sie. Jeden Morgen wollte Tilly wieder raus in den Hof. Jeden Abend hat er dann auf der Mauer vor dem Haus gewartet, bis Döbrich von der Arbeit kam. Dann gingen sie gemeinsam nach Hause.
Döbrichs anderes Haustier, Jule, war eine Stubenkatze. Döbrich hatte sie aus dem Tierheim geholt. Die Pfleger hatten damals gemeint, dass Jule zu Döbrich passt. Etwas eigenwillig sei Jule gewesen, aber auch verspielt, erzählt sie. Mit einfachen Spielsachen konnte sie sich stundenlang beschäftigen, mit Schwammbällchen etwa oder einer Kordel, an der Döbrich Zeitungspapier befestigt hatte.
Tilly und Jule waren länger krank, bevor sie starben. Bei Tilly machten die Schleimdrüsen im Hals und in der Nase Probleme. Er bekam schließlich keine Luft mehr. Bei Jule erkrankten irgendwann verschiedene Organe. Sie sei im Grunde an Altersschwäche gestorben, sagt Döbrich. Jule wurde 18, Tilly 16 Jahre alt. Beide wurden eingeschläfert. Ob der Tod eine Erlösung war? „Das ist er immer“, sagt Döbrich. „Man schläfert ja nur ein, wenn das Leiden zu groß wird." Das sagt sie dieses Mal ohne Melancholie in der Stimme, eher kühl. Döbrich ist in einer katholischen Region groß geworden. Sie glaubt jedoch nicht an Gott. An den Tod denke sie zwar oft, ja, aber nicht an ein Leben danach: „Ich weiß genau: Da ist nichts.“ Ein Ende ohne Neuanfang.
In ihrem Alter wolle sie sich nun kein eigenes Tier mehr anschaffen, erklärt sie. Die Verantwortung sei zu groß - wegen ihres Alters und Krankheiten. Auch die Tierarztkosten seien in der Rente zu hoch. Nun übernimmt sie gelegentlich die Pflege von Katzen, wenn ihre Besitzer in den Urlaub fahren. Das genießt sie sehr. Das Geld, das sie früher für Tierarztbesuche ausgab, will sie jetzt aber lieber für Reisen ausgeben. Darauf hatte Döbrich verzichtet, als sie noch mit Katzen lebte. „Das habe ich gerne gemacht“, sagt sie. Nun aber sei es an der Zeit, die Welt zu erkunden.
Sie wirft einen letzten Blick auf das Grab. Dann macht sie sich auf den Weg zurück zum Eisentor und drückt die Klinke. Sie geht zurück in eine Wohnung ohne Tilly und Jule. Ihre nächste Reise soll zu ihrem Schwager gehen. Er wohnt in Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah.
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