Jeden Freitag protestieren überall im Westjordanland Palästinenser gegen die Grenzmauer, die ihre Gebiete von Israel trennt. Dort entstehen Bilder, die wir in den Medien sehen: Jungs, die Steine werfen. Soldaten in Kampfmontur. Ein Narrativ mit Tradition.
Der palästinensische Fotograf Hassan Daboos fotografiert jeden Freitag die Proteste in Ni'lin, einem kleinen Dorf westlich von Ramallah. Auch am 29. Juli laufen wieder ein paar Dutzend Dorfbewohner gemeinsam mit ausländischen Aktivisten den Feldweg runter auf den Checkpoint zu. Daboos wird später auf seiner Facebook-Seite das Foto eines kleinen Jungen posten, der sich den israelischen Grenzsoldaten mutig entgegenstellt. Das perfekte Foto. Traditionell. Klassisch.
Doch er dreht auch ein Video dieser Szene und schickt das zu einem Kollegen, der die Facebook-Seite von "Ramallah News", einer lokalen Onlinezeitung, betreut. Von dort aus wird das Video weiter geteilt. Und eine gekürzte Version geht am Sonntag auf proisraelischen Seiten viral. Gegen Daboos' Willen und zu seinem jetzigen Ärger. Er hatte nicht darüber nachgedacht, wie brisant das Material ist.
Das Video - der opportune Zeuge?
Denn in dem Video sehen wir, wie der Vater seinen kleinen Sohn hochhebt und die Soldaten anschreit, sie sollten sich trauen zu schießen. Dann schubst er seinen Sohn nach vorne und fordert ihn auf, die Soldaten mit Steinen zu bewerfen. Der Kleine ist sichtlich verwirrt und gibt dem Soldaten schließlich ein High Five:
"Ich persönlich fand das nicht gut, was der Vater da gemacht hat. Ich meine, der Kleine ist gerade mal drei Jahre alt", sagt Daboos SPIEGEL ONLINE. "Aber ich berichte, was ich sehe, und würde daher weder eingreifen noch das Material zensieren. Ich bin Fotograf und kein Demonstrant."
Diese Haltung fliegt ihm jetzt um die Ohren. Es geht um Deutungshoheiten. Um Kontexte. Daboos' Video wird zum Politikum. Palästina-Kritiker feiern sein Video als opportunen Zeugen. Dieses Video würde das "wahre" Gesicht der Palästinenser zeigen, die ihre Kinder missbrauchten. Und Israel-Kritiker beschimpfen ihn, dem Feind Zucker zu geben. Die Lage sei eh schon kritisch genug. Auf Daboos' Facebook-Seite überschlagen sich die Kommentare. Ob er wisse, was er da getan hat. Ob ihm klar sei, wie sehr er der Sache schade. Ob er bescheuert sei.
Aber er zeige doch nur die Realität. Und die Gewalt sei nun mal da. Die Naiven, für Daboos sind das die anderen.
Soldaten mit Steinen anzugreifen, hält er prinzipiell für legitim. Dass kleine Kinder mitunter dazu erzogen werden, hingegen nicht. Dennoch ist all das Teil des palästinensischen Alltags. So alltäglich, dass es Daboos erst später dämmerte, welche Wirkung das Video entfalten kann, folgt man einem anderen Narrativ als dem seinen. Wenn man es anders "liest", als er und seine Kollegen es taten. Doch da ist es schon zu spät.
Profis und Amateure im Bilderstreit
Am Mittwoch reagiert Benjamin Netanjahu. Das Video ist ein gefundenes Fressen. In einer Videoansprache an die Nation nimmt der israelische Premierminister das Video aus Ni'lin als Beispiel dafür, "warum unser Konflikt fortbesteht". In seiner Ansprache malt er die Bilder durch Worte weiter. Woran der Junge wohl gedacht haben möge, und dass er doch lieber spielen würde. So wie alle unsere Kinder. Implizit greift er damit die Worte der früheren Premierministerin Golda Meir auf, die mal sagte: "Frieden wird es geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen."
Noch am selben Nachmittag besuchen Pressevertreter von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas das kleine Media-Center in Ni'lin, wo Daboos zusammen mit fünf anderen Kollegen arbeitet. Bevor Abbas in den kommenden Tagen eine Gegenerklärung abgeben will, muss erst mal geklärt werden, was denn da los war.
Bei Daboos herrscht Katerstimmung. Die Sache ist etwas zu groß geworden. Dieses Internet. Dabei wollte er nur zeigen, was passiert war. Doch was da eigentlich geschah, das sieht jeder anders. "Es stimmt, der Vater war an dem Tag zu weit gegangen, das sehe nicht nur ich so. Aber das ist das kleine Bild", sagt Daboos. Das größere Bild, das würden die israelischen Medien ausblenden, meint er.
Denn der 29. Juli 2016, der Tag, an dem das Video entstand, war auch der Todestag von Ahmad Mousa, einem zehnjährigen Jungen, dem bei einem solchen Freitagsprotest vor acht Jahren aus ferner Distanz in den Kopf geschossen wurde.
Der Vater aus dem Video heißt Ayoub Sroor und ist an jenem Tag, gelinde gesagt, gereizt. Erst letzte Woche wurde sein Land konfisziert. Jetzt läuft Sroor dem Protestzug voraus, der just an diesem Tag auch ein Gedenkzug für den toten Nachbarsjungen ist. Und flippt aus. Hebt seinen Sohn hoch und schreit: "Wollt ihr ihn vielleicht auch töten? Hier! Da ist er." Der Sohn läuft schließlich auf die Soldaten zu, der Vater kann ihm aber nicht folgen. Ein Schritt weiter, und die Soldaten würden auf den Vater schießen. Doch warum pfeift er ihn dann nicht zurück? Am Donnerstag erklärt Ayoub Sroor auf Anraten der PLO in einem Video, er habe sich durch die Anwesenheit der Kameraleute sicher gefühlt. Doch Kameras hin oder her, ist das nicht trotzdem fahrlässig? Daboos weicht dieser Frage aus. Es sei die falsche Frage.
"Im Kleinen kann man sich darüber aufregen, dass Väter ihre Söhne anstacheln. Aber der Kontext ist doch viel größer. Zunächst einmal wurde der Anfang des Videos abgeschnitten, aus dem der Bezug zum Trauertag hervorgeht. Und schließlich sehen wir hier auch das Ergebnis von jahrzehntelangen Entwicklungen. Nicht ihren Auslöser", sagt Daboos. Und trotzdem. Die Szene sitzt. Das Bild ist da. Der Vater zeigt seinem Jungen, wie man Steine wirft.
Heute vor einer Woche, auf dem Rückweg vom Checkpoint, fragte Daboos den Vater noch, ob das nicht doch etwas zu krass war. "Ich zeige meinem Sohn nur die Realität", erwiderte Sroor. Mit welchen Narrativen wir welche Realität beschreiben, ist Politik. Der kleine Junge in dem Video jedoch hat davon keine Ahnung.