Das Katapult besteht aus zwei Seilen und einem Nudelsieb. Zwei mit Sturmhauben vermummte Demonstranten haben sich die Seile über die Schultern gelegt, Pavle Bogoevski zieht das Sieb nach hinten und befüllt es mit Farbbeuteln. "Boja, boja, boja", skandiert die Menge – "Farbe, Farbe, Farbe".
Die Fassade des Regierungsgebäudes - Baujahr: 2014, Kosten: 16, 8 Millionen Euro – ist bereits gesprenkelt von vergangenen Farbattacken. Rote, grüne, pinke Flecken, jetzt kommt noch ein gelber hinzu. Im Hintergrund verbrennt ein 60-jähriger Mann ein Bild des Präsidenten. Die Demonstranten beladen das Katapult neu.
Es ist Tag 52 der mazedonischen "bunten Revolution" und Pavle Bogoevski hat schwarze Ringe unter seinen Augen. Seit dem 12. April ist der 30-Jährige jeden Tag mit Protestieren beschäftigt, einer von etwa 4000 Menschen, die täglich durch Skopje ziehen und den Rücktritt der Regierung fordern. Weil sie die Regierung für bestechlich halten und dutzende Politiker der Korruption beschuldigt sind.
Und weil der mazedonische Präsident Gjorge Ivanov im April alle Politiker begnadigt hat, die aufgrund ebendieser Vorwürfe angeklagt waren. "Das war ein Weckruf", sagt Bogoevski. "Endlich haben die Menschen ihre Angst verloren und wehren sich."
Am Montag hat Präsident Ivanov die Begnadigungen nach fast zwei Monaten des Protests wieder zurückgenommen. Geändert hat das nichts mehr. Die Menschen haben sich entschieden, gegen das Regime zu protestieren und sie gedenken nicht, damit aufzuhören, bis die Regierung nicht zurückgetreten ist.
"Wir haben der Regierung ein Ultimatum bis zum 18. Juni gestellt, um zurückzutreten", sagt Aleksandar Mladenovski, einer der Organisatoren des Protestes. "Und ich glaube, dass sie das auch tun werden." Und wenn nicht? "Mal sehen", sagt Mladenovski. Im Internet haben Demonstranten "Guerillaaktionen" angekündigt, sollte das Ultimatum nicht eingehalten werden.
Es sind bewegte Zeiten für Mazedonien. Das kleine Land zwischen Bulgarien und Griechenland - formeller EU-Beitrittskandidat, zwei Millionen Einwohner, mehr Autokratie als Demokratie - tendiert eigentlich mehr zu Stagnation als Veränderung. Seit zehn Jahren wird es von der konservativen Partei VMRO-DPMNE regiert, seither ist es auf der Liste der Pressefreiheit von Platz 45 auf Platz 118 gefallen. Wahlfälschungen und Korrution sind schon lange fester Bestandteil des Systems. Proteste waren es nie.
Bis zum 5.Mai 2015. Da hat Oppositionschef Zoran Zaev die sogenannte "Neshkovski"-Bombe veröffentlicht: Mitgeschnittene Regierungstelefonate, auf denen sich Geheimdienstchef und Innenministerin darüber unterhalten, wie sie am besten die Ermordung eines jungen Mannes durch die Polizei vertuschen könnten.
Schon in den Wochen zuvor hatte die Opposition immer wieder mitgeschnittene Telefonate - genannt Bomben - veröffentlicht, jede ein kleiner Skandal. Aber nach der Neshkovski-Bombe gingen Zehntausende auf die Straße.
Das Ergebnis: Vorgezogene Wahlen, ausgehandelt durch EU-Kommissar Johannes Hahn. Und Ermittlungen gegen jene Politiker, denen mit den "Bomben" Straftaten nachweisbar waren. Die Unruhen ebten ab. Bis Präsident Ivanov beschloss, alle angeklagten Politiker zu begnadigen. Seither geht es rund auf Skopjes Straßen.
Ein verkitschtes Klassizismus-Disneyland
Vor dem Regierungsgebäude setzt sich die Demonstration langsam wieder in Bewegung. Pavle Bogoevski räumt die restlichen Farbbeutel in den Lautsprecherwagen, ein Polizist beobachtet ihn mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. "Das mit der Farbe haben wir begonnen, weil wir zeigen wollten, das wir es ernst meinen, ohne Gewalt anzuwenden", sagt Bogoevski. "Außerdem machen sie die Stadt viel schöner."
Die Demonstranten bewerfen nicht jedes Haus mit Farbe. Nur jene Bauten, die die Regierung im Rahmen des Projekts "Skopje 2014" in den letzten Jahren hat errichten lassen. Skopje 2014 ist ein architektonischer und finanzieller Exzess: Der Versuch, die Stadt in ein verkitschtes Klassizismus-Disneyland zu verwandeln.
Die Gebäude, Statuen und Skulpturen, die die Regierung zu Dutzenden hat erbauen lassen, sehen aus, als habe jemand mit einem 3D-Drucker versucht, das alte Griechenland nachzudrucken. Klopft man an die Säulen oder Fassaden, sind diese oft von innen hohl. 500 Millionen hat das Projekt bislang gekostet. In einem Land, in dem Schüler in zwei Schichten zur Schule gehen, weil es an Plätzen mangelt.
Die vorgezogenen Wahlen, die für den 5. Juni angesetzt waren, sind inzwischen abgeblasen worden. Der Hauptgrund: Schon seit Jahren hat es in Mazedonien keine Volkszählung mehr gegeben, Schätzungen gehen davon aus, dass in dieser Zeit bis zu einem Viertel der Bevölkerung das Land verlassen hat.
Die Protestierenden fürchten, die Regierung könnte die Stimmzettel für den fehlenden Teil der Bevölkerung ausfüllen - und sich kurzerhand selbst zurück an die Macht wählen.
Die Demonstranten fordern deshalb die Bildung einer technischen Regierung, die freie und geheime Wahlen ausrichten soll. Der Opposition trauen gerade die jungen Leute dabei nicht über den Weg. Sie sei ebenso korrupt wie die Regierung, hört man oft.
Pavle Bogoevski besorgt das nicht. "Wir dürfen diesen Protest einfach nicht als einmalige Demonstration betrachten", sagt er. "Wenn die neue Regierung Ärger macht, müssen wir direkt auf die Straße gehen."
Bogoevski wischt sich einen Farbfleck von der Backe. "Die mazedonischen Politiker müssen lernen, dass sie dem Volk dienen - und nicht umgekehrt", sagt er. Dann muss er los. Das mazedonische Parlament - Baujahr: 2015, Kosten: 21 Millionen Euro - ist ihm noch nicht farbig genug.
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