Tagsüber am Strand von Lampedusa Cocktails schlürfen, wo am Abend Flüchtlingsboote kentern. Darf man das? Tourismusforscher Ulrich Reinhardt über Moral, deutsche Sorglosigkeit und die Urlaubssehnsüchte der Kanzlerin.
Christ und Welt: Herr Reinhardt, schalten wir im Urlaub das schlechte Gewissen ab?
Ulrich Reinhardt: Viele von uns sicherlich. So regen wir uns zwar darüber auf, wenn wir Müllberge im Hotel oder am Strand entdecken, doch selbst verhalten wir uns nicht viel besser. Auch wenn kaum einer von uns seinen Müll am Strand liegen lässt, genießen wir es doch, wenn die Handtücher täglich und die Bettwäsche alle paar Tage gewechselt werden. Viele von uns lassen Essen auf dem Teller liegen, beschweren sich aber gleichzeitig, wenn die Scampi beim Abendbüfett aus sind. Zu Hause entspräche all dieses nicht unserem Verhalten, aber im Urlaub lassen wir gerne fünfe gerade sein.
Frage: Wie ist es denn bei der Urlaubsplanung - ist das eine Gewissensfrage?
Reinhardt: Bezogen auf den Umweltaspekt eher selten. Lediglich jeder fünfte deutsche Urlauber legt Wert auf einen umweltfreundlichen Urlaubsort. Das überrascht, da das Umweltbewusstsein im Alltag ungleich höher ist, aber auf Reisen blenden wir unser Gewissen aus und leben nach dem Motto: Ich habe 50 Wochen gearbeitet, jetzt habe ich mir zwei Wochen Urlaub verdient und in diesen muss ich nicht gerade an Mutter Natur denken.
Frage: Das klingt nach Egoismus.
Reinhardt: Sagen wir es so, in diesen kostbaren Urlaubswochen sind sich die meisten Touristen selbst am wichtigsten. Die eigenen Bedürfnisse stehen an erster Stelle, alles andere ist nachrangig.
Frage: Darf man jetzt eigentlich noch nach Griechenland fahren?
Reinhardt: Aber ja. In Griechenland sollten möglichst viele Deutsche ihren Urlaub verbringen, nicht nur um die Wirtschaft dort zu unterstützen, sondern weil die Urlaubsqualität sehr hoch ist, angefangen von der natürlichen Schönheit über die hohe Gastfreundschaft bis hin zu den zahlreichen Attraktionen und einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis.
Frage: Na ja, aber ist das denn moralisch vertretbar?
Reinhardt: In Griechenland für mich zweifelsfrei. Schwieriger wird es in anderen touristischen Gebieten. So muss man sicherlich darüber nachdenken, ob es okay ist, tagsüber auf Lampedusa seinen Cocktail am Strand zu genießen und abends mitzubekommen, dass wieder ein Flüchtlingsboot vor der Küste untergegangen ist. Aber es ist Fakt: Im Urlaub werden Probleme vor Ort ausgeblendet, was zählt, ist die heile Urlaubswelt.
Frage: Das Leid, das sich dort abspielt, interessiert uns also nicht?
Reinhardt: Natürlich sind wir betroffen, ändern aber unser Reiseverhalten in aller Regel nicht. Allerdings müssen wir nicht nur auf Griechenland oder Lampedusa schauen. So könnte auch über das Lohnniveau in fast allen Urlaubsdestination - von Deutschland bis Bali - nachgedacht werden, wie auch über die hohe Anzahl von Saisonverträgen. Oder über die Umweltauswirkungen von Flugreisen oder den Sinn von inszenierten Volkstanzeinlagen für Touristen oder, oder, oder. Wenn wir das alles ändern wollten, müsste der Urlaub entweder deutlich teurer werden oder aber wir müssten ganz auf das Reisen verzichten. Weil Urlaub aber auch zukünftig die populärste Form des Glücks für uns bleiben wird, verschließen wir eben die Augen vor der Alltagsrealität vor Ort und hinterfragen nicht alles. Das ist ein Stück weit auch gut so.
Frage: Warum?
Reinhardt: Einerseits weil sonst ein Reisen, wie wir es kennen, nicht stattfinden würde, andererseits weil es auch eine Art Selbstschutz ist, nicht über alles im Urlaub nachzudenken und dann ständig ein schlechtes Gewissen zu haben. Sonst droht das persönliche Urlaubsglück verloren zu gehen.
Frage: Die Deutschen wollen also einen sorglosen Urlaub haben, Moral hin oder her?
Reinhardt: Für die große Mehrheit der Deutschen zählt auf Reisen dieses Nicht-Nachdenken, man möchte es sich einfach gut gehen lassen, denn man hat dafür gearbeitet, Geld zusammengespart und sich lange gefreut.
Frage: Was sagt der Urlaubsort eigentlich über uns aus?
Reinhardt: Ziemlich viel. Wir Bundesbürger bleiben uns auf Reisen treu und suchen meistens die Orte auf, die unsere Bedürfnisse am besten befriedigen. Jemand, der seit Jahren gerne an die Nordsee fährt, wird im nächsten Jahr nicht unbedingt seinen Urlaub in London oder auf einer Safari in Afrika verbringen. Plakativ ausgedrückt: Sagen Sie mir das Reiseziel, und ich sage Ihnen, was für eine Person dahintersteckt.
Frage: Also, Angela Merkel fährt jedes Jahr auf die italienische Insel Ischia. Was verrät uns das?
Reinhardt: Die Kanzlerin sucht einerseits Kultur, andererseits eine entspannte Zeit mit ihrem Gatten. Sie will die Muße haben, Dinge auf sich wirken zu lassen, sie sucht die Natur, in der sie Ruhe finden kann. Jemanden wie die Bundeskanzlerin könnte man nicht nach Las Vegas schicken, das würde überhaupt nicht zu ihr passen. Ischia ist also die richtige Entscheidung.
Frage: Wie sieht denn der typische deutsche Durchschnittsurlaub aus?
Reinhardt: Der typische Urlauber fährt für 12,3 Tage in den Urlaub, gibt rund 1.100 Euro aus und reist mit dem Auto an. Er verbringt die besten Wochen seines Jahres zwischen Nord- und Ostsee, im Bayerischen Wald oder im Schwarzwald, also eher im Inland. Wenn er doch weiter wegfährt, dann am ehesten ans Mittelmeer, nach Spanien, Italien oder in die Türkei. Sonne, Strand und Meer gehören für viele einfach dazu. Eine Fernreise - außerhalb Europas - unternimmt nur etwa jeder zehnte Bürger.
Frage: Sonne, Strand und Meer, sagen Sie. Das klingt nach Faulenzen.
Reinhardt: Es gibt zwei Grundmotive, warum wir Deutschen unterwegs sind. Da ist einerseits die Regeneration von und für die Arbeit. Wir wollen ausschlafen, die Zeit vergessen, uns erholen und einfach auch mal faul auf der Sonnenliege nichts tun. Andererseits ist der Kontrast zum Alltag wichtig. Wir möchten etwas Neues sehen, fernab der eigenen vier Wände neue Erfahrungen machen. Insofern ist es wenig überraschend, dass wir Deutschen ein Stück weit unruhig sind und vor Ort etwas unternehmen möchten. Denn fast jeder identifiziert sich darüber, was er im Urlaub erlebt hat.
Frage: Was heißt das?
Reinhardt: Wenn wir wiederkommen, suchen wir das Gespräch mit Nachbarn, Kollegen, Freunden und der Familie. Der erste Satz lautet fast immer "Wenn ich dir erzähle, was ich im Urlaub erlebt habe ..." Das kann jetzt das spannende Museum gewesen sein oder die ergreifende Kirche, aber auch der unfreundliche Kellner oder das schlechte Wetter. Hauptsache, es gibt später etwas zu erzählen.
Frage: Ist Urlaub zum Statussymbol geworden?
Reinhardt: Sicher. Eher verzichten wir auf die neue Couchgarnitur und verschieben den Autokauf, als dass wir die besten Wochen des Jahres daheim verbringen. Urlaub rangiert innerhalb der Konsumprioritäten unangefochten an erster Stelle. Aber wir dürfen die zunehmende Spaltung der Gesellschaft nicht vergessen, die sich auch auf Reisen zeigt. Drei Viertel der Mitbürger mit einem geringem Einkommen verbringen ihren Urlaub auf Balkonien oder in Bad Meingarten. Dagegen unternehmen viele Besserverdienende zwei bis drei Reisen pro Jahr.
Frage: Mit welchem Reiseziel gibt man heute an?
Reinhardt: Pauschal kann man sagen: Je weiter das Land entfernt ist, desto prestigeträchtiger ist es. Früher war Italien etwas Besonderes, in den Achtziger- und Neunzigerjahren wurden so langsam Spanien und Griechenland entdeckt. Irgendwann kam der Fernreisemarkt hinzu. Auch heute lässt sich sicherlich mit einer Reise in die Südsee, in die USA oder nach Neuseeland punkten. Aber auch alternative Reiseformen erzeugen durchaus Anerkennung, sei es der Klosteraufenthalt oder das klassische Holzhaus in Schweden.
Frage: Also je abgelegener und exotischer, desto besser. Kann aber ganz schön gefährlich werden, oder?
Reinhardt: Sicherheit auf Reisen ist eine Grundvoraussetzung. Egal wie viel Spannung, Abenteuer oder Action enthalten ist, die eigene Sicherheit muss gegeben sein. Deshalb ist ja auch der Anteil der Menschen, die derzeit nach Syrien, in den Iran, Irak oder nach Afghanistan fahren, verschwindend gering. Obwohl sich eine Reise in diese Länder sicherlich lohnt.
Frage: Suchen besonders junge Reisende die Ferne?
Reinhardt: Sie zeigen sich zumindest interessierter. Sie wollen Spaß haben, neue Menschen kennenlernen und möglichst lange weg sein für möglichst wenig Geld. Aber genau an den finanziellen Möglichkeiten scheitert es dann eben auch oftmals. Insofern überrascht es kaum, dass die meisten Fernreisenden kinderlose Besserverdiener im mittleren Alter sind.
Frage: Viele junge Menschen gehen heute auf Kreuzfahrt. Wie kommt das?
Reinhardt: Die Kreuzfahrtindustrie hat sich sehr stark geöffnet. In den Neunzigerjahren waren Kreuzfahrten noch spießig: In Gold‑insignien geschmückte Schiffe, wo abends das Jackett und das Abendkleid angezogen werden mussten. Tagsüber lag man im Liegestuhl an Bord und ging Abends zum Captain’s Dinner. Das gibt es zwar heute immer noch, aber die Kreuzfahrtindustrie hat es eben geschafft, sich breiter aufzustellen. Es gibt Kreuzfahrten für jüngere Leute, für Familien, für Homosexuelle, für Singles, für Kulturinteressierte und sogar für Heavy-Metal-Fans.
Frage: Erklärt das den Boom?
Reinhardt: Kreuzfahrten boomen, weil sie einerseits Freiheit auf dem Wasser ermöglichen, andererseits Geborgenheit und Sicherheit in einer geschlossenen Gemeinschaft. Die Leute suchen die Mischung aus Ruhe und Entspannung an Bord und Ausflugs- und Erlebnisprogrammen auf dem Festland. Die Touristen befinden sich auf einer fahrenden Paradiesinsel: Jeden Tag etwas Neues erleben und zum Schlafen wieder in die eigene Kabine. Diese Mischung empfinden viele als sehr faszinierend.
Frage: Für diese Paradiesinsel müssen andere hart schuften.
Reinhardt: Arbeitsanforderungen und Arbeitslohn sind große Herausforderungen in der Tourismusbranche. Daher ist auch die Fluktuation oftmals recht hoch. Dennoch müssen sich Reedereien, Hotels oder Restaurants kaum Gedanken über Bewerber machen: Die Arbeit im Tourismus bleibt für viele ein Traumjob. Und wenn doch mal Personal fehlt, stehen die Bewerber in Osteuropa und Asien Schlange.
Frage: Bemerken die Touristen die schlechten Arbeitsbedingungen nicht?
Reinhardt: Wie sollten sie? Die Angestellten sind hochprofessionell, stets freundlich und zuvorkommend. Was hinter den Kulissen passiert, erfährt der Tourist nicht. Aber auch die deutschen Reisenden selber zeigen sich selten großzügig gegenüber dem Personal. Mit einigen Euro Trinkgeld am Ende des Urlaubs für das Zimmermädchen haben sie schon ein gutes Gefühl. Reisende aus anderen Ländern hinterlassen dieses täglich auf dem Kopfkissen.
Frage: Vor Kurzem gab es einen Anschlag auf ein Touristenhotel in Tunesien. Welche Auswirkungen hat das?
Reinhardt: Ich erwarte in diesem Jahr 30 bis 50 Prozent weniger deutsche Touristen in Tunesien. Grund dafür ist das fehlende Sicherheitsgefühl – und sei dieses auch nur ein Gefühl. Dabei hinterfragen nur wenige die Ursachen hinter dem Anschlag, sondern reagieren eher pragmatisch nach dem Motto: "Wenn nicht Sonne, Strand und Meer in Tunesien, dann eben Sonne, Strand und Meer in einem anderen Land." Insofern können sich Reiseziele wie Spanien, die Türkei oder Italien auf zusätzliche Gäste einstellen.
Frage: Wie lange dauert es, bis sich das Touristikgeschäft wieder normalisiert?
Reinhardt: Aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit kann man sagen, zwischen 12 und 18 Monate. In Ägypten, wo es vor ein paar Jahren einen Anschlag gab, war die erste Saison mies, doch danach kam die Phase, in der es langsam besser wurde. Man kann sagen, der deutsche Urlauber hat diesbezüglich eine Art chronisches Kurzzeitgedächtnis. An den Anschlag in Tunesien werden sich viele Deutsche in ein, zwei Jahren nicht mehr wirklich erinnern.
Frage: Herr Reinhardt, Sie als Tourismusforscher, wohin fahren Sie eigentlich in den Urlaub?
Reinhardt: Ich könnte jetzt sagen, dass ich als Tourismusforscher nie richtig Urlaub habe, man muss immer auch ein bisschen forschen. Aber wenn in ehrlich bin, werde ich ganz entspannt zwei Wochen mit meiner Familie in Schleswig-Holstein verbringen. Mal in Ruhe ein Buch lesen, mit den Kindern am Strand spielen und abends mit Freunden noch grillen oder einfach auch mal nichts tun.
Frage: Sie stellen in Ihrer Tourismusanalyse verschiedene Urlaubertypen vor. Es gibt das Profil des Türkei-Urlaubers, des Nordsee-Urlaubers … Ich bin Mitte 20, habe Abitur, verdiene nicht schlecht. Wo würden Sie mich hinschicken?
Reinhardt: Wenn wir es auch moralisch und aus Umweltsicht betrachten: Am besten an einen Baggersee in der Nähe Ihres Wohnorts (lacht). Unabhängig davon: Ich würde schon eine Fernreise für Sie raussuchen, zum Beispiel in den asiatischen Raum. Sie reisen alleine oder vielleicht mit dem Partner, Sie sind vielseitig interessiert, aufgeschlossen gegenüber Neuem, suchen Kultur und Natur. Zu Ihnen würde daher vielleicht eine Mischung aus Anspannung und Entspannung passen: Erst eine Woche Rundreise und dann ein paar Tage am Strand, wo Sie sich erholen können und sich den Sonnenuntergang anschauen.
Frage: Aha. Ja, das klingt gut. Würde ich so buchen.
Reinhardt: Liege ich denn richtig?
Frage: Sie hatten schon recht. Nächstes Jahr geht’s wahrscheinlich nach Thailand. In diesem Jahr steht aber nur eine Woche Spanien auf dem Programm.
Reinhardt: Das ist übrigens auch wieder typisch deutsch. "Nur eine Woche Spanien." Man entschuldigt sich für den eigenen Urlaub. Die Hälfte der Deutschen würde beim Gedanken an einen Spanien-Urlaub jetzt in Begeisterung ausbrechen. Doch man relativiert den Urlaub immer ein Stück weit, sofern er nicht in exotische Länder geht. Dabei ist und bleibt der Urlaub das Highlight des Jahres, und egal wohin es geht, wir sollten den Urlaub vorher, vor Ort und hinterher genießen
Original