Die steilsten Berge der Alpen hinaufklettern – um sie dann mit Höchsttempo wieder hinunterzufahren. Was für die einen nach purem Wahnsinn aussieht, ist für Skiprofi Jérémie Heitz gelebte Passion. Ein Gespräch über Risiken, richtige Vorbereitung und den Reiz des Grenzbereichs.
Manchmal, wenn er auf seinen Ski steht, scheint Jérémie Heitz komplett den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Dann rast der junge Mann die steilsten Berge hinunter, ungebremst Richtung Tal. Er springt nicht nur über Felsvorsprünge, sondern fliegt geradezu über sie hinweg. Er pfeift auf physikalische Gesetze, spielt mit der Schwerkraft. Heitz, 27 Jahre alt, geboren im Schweizer Kanton Wallis, ist der wohl schnellste Freerider der Welt. Für den Dokumentarfilm „La Liste" hat sich Heitz die 15 schönsten Viertausender der Alpen hinabgestürzt: das Matterhorn, die Lenzspitze, Obergabel-, Hohberg- und Zinalrothorn und ein knappes Dutzend mehr. Allesamt Gipfel mit einer Neigung von mehr als 50 Grad, bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 Kilometern pro Stunde. Das Extreme ist sein Element.
Monsieur Heitz, Sie fahren die steilsten Berge der Welt hinab, in einem schwer zu fassenden Tempo. Warum tun Sie das?Manche Skifahrer machen coole Sprünge, andere kurven um Plastikfahnen herum. Das hat mich nie interessiert. Ich fahre lieber abseits der Piste, ohne vorgegebene Routen und irgendwelche Ziellinien. Auf Bergen, die mich interessieren und mich herausfordern. Es gibt einfach nichts Größeres, als oben auf dem Gipfel zu stehen, hinunter ins Tal zu blicken und zu sehen, wo man in wenigen Sekunden ankommt.
Hört sich ja schön an, ist aber wahnsinnig gefährlich ...Nicht gefährlicher als der Straßenverkehr in Paris. Gucken Sie sich doch mal an, wie die Leute da fahren! Ich stehe auf Ski, seitdem ich laufen kann. Ich weiß, wie ich die Berge lesen muss. Und ich würde nie versuchen, auf steilen Stellen so lässig zu fahren wie auf einer blauen Piste. Das wäre lebensmüde. Auch wenn es nicht so aussieht: Ich habe immer die Kontrolle.
Ist das bei diesen Geschwindigkeiten überhaupt möglich?Ich überlasse nichts dem Zufall, habe nur Profis um mich herum. Menschen, die ich sehr gut kenne, denen ich vertraue und mit denen ich alles bespreche. Das ganze Jahr über analysieren wir Wetter- und Temperaturentwicklungen. Mit dem Flugzeug fliegen wir um die Gipfel und suchen mit Ferngläsern und Zoom-Objektiven nach den besten Flanken für die Abfahrt. Danach steige ich selbst mit meinen Ski hoch, um den Berg und seine Eigenarten kennenzulernen und sicherzugehen, dass unter dem Schnee kein Glatteis ist. Gute Vorbereitung ist alles.
Ein gewisses Restrisiko bleibt immer. Haben Sie gar keine Angst?Doch, und das ist gut so. Die Angst schärft deinen Blick, sie macht dich wach. Wer sich zu sicher fühlt, macht schneller Fehler. Ausrutschen, verkanten, stürzen - auf Bergen, wie ich sie fahre, wäre das tödlich. Man darf der Angst aber nicht zu viel Raum lassen. Also sperre ich vor der Abfahrt negative Gedanken aus und versuche, mich nur von positiven Gefühlen durchströmen zu lassen: die Freude, endlich auf dem Gipfel zu stehen; der Glücksrausch, der einen nach der Abfahrt erfasst, der Stolz von Freunden und Familie. Das ist stärker als die Angst vor dem Absturz.
Was sagen Ihre Familie und Ihre Freundin zu den halsbrecherischen Manövern?Mein Opa war Skilehrer, mein Vater Basejumper, meine Mutter Skirennläuferin, und mein Stiefvater arbeitet als Bergführer. Sie alle kennen die Gefahren der Berge. Aber sie wissen auch, was ich kann. Und dass ich kein Verrückter bin.
Mit Ihrem Film „La Liste" haben Sie dem Steilwandfahren ein Denkmal gesetzt. Wie kamen Sie auf die Idee dazu?Ich bin im selben Ort geboren wie Sylvain Saudan. Er war 1970 der Erste, der über die Nordwestflanke am Eiger fuhr. Damals hüpfte er noch auf den Kanten der Ski hin und her, tanzte mit dem Berg. Damit ebnete er uns Freeridern den Weg. Mit „La Liste" wollte ich Saudan und anderen Pionieren Respekt zollen. Und zeigen, was heute möglich ist.
Was war die größte Herausforderung?Das Timing. An manchen Bergen hat man nur ein kleines Zeitfenster. Wetter und Schnee müssen stimmen, die Crew muss startklar sein. Nur wenn alles passt, kann man das Risiko kalkulieren und das Wagnis einer solchen Abfahrt eingehen.
Was machen Sie, wenn es trotz aller Vorbereitung mal nicht nach Plan läuft?Umkehren, wieder absteigen. Beim Matterhorn zum Beispiel habe ich ganze drei Anläufe gebraucht. Bei den ersten beiden Versuchen kam mir der Wind in die Quere. Es gibt wirklich Schöneres, als bei Minusgraden auf einem Berg zu übernachten, um drei oder vier Uhr aufzustehen und die ganze Sache dann abzublasen. Es geht ja nicht nur um mich, da hängt ja auch die ganze Crew mit drin.
Klingt frustrierend ...
Ist es auch. Aber Sicherheit geht vor. Und es ist wichtig, auch mal Nein zu sagen. Wenn du dich nicht topfit fühlst, wenn du auch nur den leisesten Zweifel an deinem Willen hast, dann lass es, versuch es ein anderes Mal! Der Berg, er wird auch morgen noch da stehen.
Nie vergessen werde ich das Obergabelhorn - eine wunderschöne Felsformation, die geformt ist wie eine Pyramide, und der letzte Gipfel, den wir für „La Liste" angepeilt haben. Nur wenige Stunden im Jahr findet man hier perfekte Bedingungen vor, frischen Schnee, tief und noch etwas nass. Ich glaube, noch nie ist jemand diesen Berg so gefahren wie ich. Darauf bin ich sehr stolz.
Auf der Freeride World Tour zählen Sie stets zu den Favoriten, sind fast immer auf den vorderen Plätzen gelandet. Was bedeuten Ihnen Titel?Ich träume schon sehr lange vom Weltmeistertitel. Der Stolz, der Ruhm und die Preisgelder sind mir nicht so wichtig. Der Wettbewerb dient eher als Ansporn, damit ich weiter an mir arbeite.
Gibt es ein Limit bei Ihrer Rekordjagd?Mein Ehrgeiz ist noch sehr lebendig. Und ich bin neugierig, wo ich überall hinkomme mit meinen Ski und was ich so alles mit ihnen machen kann. Eines meiner nächsten Ziele ist der Himalaja. Mit einem Freund habe ich bereits den Annapurna erkundet, einen der am seltensten bestiegenen und gefährlichsten Achttausender. Die Schneebedingungen dort unterscheiden sich gravierend von denen in Europa. Der Monsun ist unberechenbar. Und die Höhenluft setzt einem ganz schön zu. Ich bin gespannt, ob wir dort dasselbe schaffen wie in Europa - das wäre dann das nächste Level.
Original